Ein Blick in die Geschichte (114): Aufnahme von 1930 zeigt äußerstes Ende des Stephaniviertels
Mehr Idylle geht kaum noch: Gemütlich sehen sie aus, die windschiefen und altersschwachen Häuschen auf dieser Ansichtskarte von 1930. Zu sehen ist eine Straße, die es so schon lange nicht mehr gibt: „Vor dem Stephanitor“ hieß damals die kleine Gasse mit gerade mal 17 Hausnummern am äußersten Ende des Stephaniviertels. Heute gibt es keine Häuser mehr an dieser Stelle, vielmehr führt der Stephanitorsteinweg durch die Grünanlage zwischen Bahnschienen und B 6.
Bebaut war die Straße früher nur an der Altstadtseite, gegenüber markierte eine Reihe von Bäumen den Übergang zu den Wallanlagen. Im hinteren Bereich lässt sich die Einmündung der Kleinen Krummenstraße erkennen und noch weiter hinten ein Baugerüst an einem offenbar größeren Gebäude – es ist das schon direkt an der Weser gelegene Focke-Museum, seit 1913 befand es sich im früheren Altenheim an der Großenstraße.
Als altes Fischer- und Handwerkerviertel war das Stephaniviertel damals so etwas wie das westliche Gegenstück zum Schnoor. Und doch muss man sich hüten vor allzu nostalgischen Anwandlungen. Bei näherem Hinsehen erweist sich, wie trügerisch die vermeintliche Idylle ist: An etlichen Stellen bröckelt der Putz von den Wänden, die Häuser wirken vernachlässigt, sie versprühen einen morbiden Charme. Tatsächlich war das Stephaniviertel mit seinen verwinkelten Gassen und Gängen alles andere als ein gesuchtes Wohnquartier, sondern als ärmstes Stadtviertel Bremens ein sozialer Brennpunkt.
Bürgerschaft sagte der engen Bebauung den Kampf an
Schon 1904 sagte die Bürgerschaft der engen Bebauung genau in diesem Bereich den Kampf an, die Große und Kleine Krummenstraße galten als Brutstätte ansteckender Krankheiten. Eine Kommission zur Beseitigung von Gängen und Höfen sollte Sanierungsvorschläge erarbeiten, zu einem kleinen Teil wurden sie sogar umgesetzt. Doch aus den ehrgeizigen Plänen wurde nichts, der Erste Weltkrieg machte der Politik einen Strich durch die Rechnung.
Als diese Aufnahme entstand, waren den alten Häusern dann wirklich nur noch wenige Jahre beschieden. Man könnte annehmen: weil der Bombenkrieg nahezu das gesamte Stephaniviertel in Schutt und Asche legte. Doch das ist ein Trugschluss, in Wahrheit schlug das letzte Stündlein dieser Häuser schon einige Jahre bevor sich das Viertel in eine Trümmerwüste verwandelte.
Das Aus für die Häuschen an der Straße „Vor dem Stephanitor“ kam, als im „Dritten Reich“ der schon lange gehegte Plan einer hafennahen Weserbrücke in die Tat umgesetzt wurde. 1936 begannen die Arbeiten an der Westbrücke, der heutigen Stephanibrücke. Für die Zufahrt auf der Altstadtseite wurden ab 1938 insgesamt 140 Häuser im westlichsten Teil des Stephaniviertels abgerissen. Darunter sämtliche Gebäude, die auf der Postkartenansicht zu sehen sind.
Das Focke-Museum blieb verschont
Auf den ersten Blick allerdings schwer zu begreifen, warum das Focke-Museum von der städtebaulichen Flurbereinigung verschont blieb. Denn wenn die alten Häuschen der Zufahrt zur neuen Brücke im Wege standen, hätte es das Focke-Museum erst recht tun müssen – zumindest dem Augenschein nach.
Doch dieser Eindruck täuscht, langte die neue Brücke doch neben dem Focke-Museum auf der Altstadtseite an. Was allerdings nichts daran änderte, dass das Museum bis zu seiner Zerstörung im Zweiten Weltkrieg eine Insellage zwischen Eisenbahnbrücke und Westbrücke (seit ihrer Einweihung am 1. Juli 1939: Adolf-Hitler-Brücke) innehatte: Das Focke-Museum war seither gleichsam abgekoppelt vom Stephaniviertel.
Anders als man meinen könnte, befindet sich die heutige Straße „Vor Stephanitor“ nicht etwa dort, wo bis 1902 die gleichnamige Straße und bis zur Beseitigung 1938 die Straße „Vor dem Stephanitor“ verlief. Vielmehr hat man sie einfach verschoben, die Straße schlägt ein ansehnliches Stück weiter östlich einen Bogen durch das westliche Stephaniviertel.
von Frank Hethey