Zum Jahrestag des Novemberpogroms: Der Anwalt Arno Carl Kunath half Juden beim Geldtransfer
Sein letzter Weg führte Arno Carl Kunath in den Bürgerpark. Laut Sterbeurkunde wurde er am 5. Juni 1939 um 5.45 Uhr in der Nähe der Borkenhütte tot aufgefunden. Der damals 39-jährige Rechtsanwalt setzte seinem Leben selbst ein Ende, daran besteht kein Zweifel. In der familiären Überlieferung kursiert allerdings noch eine zweite Version vom Ort des Geschehens. Nicht in Bremen, sondern in der Schweiz habe Kunath Suizid begangen, nachdem er von der Durchsuchung seiner Kanzlei durch die Gestapo erfahren hatte. „Er hat sich für Juden eingesetzt und versucht, Gelder für sie in die Schweiz zu bringen“, sagt seine Nichte Hadwig Hauser.
Der Name Kunath hat einen guten Klang in Bremen. Sein Vater Arno Theodor war ein prominenter Turner, nach seiner aktiven Laufbahn spielte der Volksschullehrer als Oberturnwart eine bedeutende Rolle im Bremer wie auch deutschen Turnwesen, nach ihm ist eine kleine Straße im Ortsteil Peterswerder benannt. Zu einiger Prominenz hat es auch seine Schwester Hanna gebracht, sie war die erste Pilotin Bremens. An sie erinnert unweit des Flughafens ebenfalls eine Straße. Der Vater und die Schwester: zwei Menschen, die ihre Spuren in der Geschichte Bremens hinterlassen haben.
Fast völlig vergessen ist dagegen Arno Kunath, der einzige Sohn der Familie. Der Jahrestag des Novemberpogroms von 1938 ist eine gute Gelegenheit, sein kurzes Leben in Erinnerung zu rufen. Und ein wenig darüber zu spekulieren, was ihn dazu gebracht haben könnte, verfolgten Bremer Juden nicht nur juristisch beizustehen.
Kunath entstammte einem national-konservativen Milieu. Fast wäre er als blutjunger Mann noch im Ersten Weltkrieg zum Einsatz gekommen. „Drei Tage nach seinem Abitur wurde er einberufen“, sagt seine Nichte. Alte Fotos zeigen den 18-Jährigen in kaiserlicher Uniform. An die Front verschlug es den 18-Jährigen nicht mehr, der Krieg war vorbei, ehe er sich hätte bewähren können. Stattdessen schloss sich Kunath als Jura-Student in Marburg der schlagenden Verbindung Arminia an, bis heute eine der mitgliederstärksten Burschenschaften Deutschlands.
Kurz vor seinem Examen dann ein schwerer Schlag: Kunath erkrankte an Kinderlähmung, fast ein Jahr lang verbrachte er im Sanatorium. Auch später stand es mit seiner Gesundheit nicht zum Besten, von der Krankheit blieb eine lebenslange Gehbehinderung zurück. In Familienbesitz hat sich eine Ansichtskarte erhalten, die er im November 1927 aus der Heilanstalt Waldhof bei Wetzlar an seine Schwester Martha und ihren Mann Adam Holschuh schrieb, den Eltern von Hadwig Hauser. „Seit drei Tagen habe ich mich hier zu längerem Aufenthalt eingerichtet“, berichtet er. „Mir geht es gut, und vorläufig gefällt es mir hier“, heißt es vielsagend.
Viele Juden waren Patrioten
Hat Kunath in den Heilanstalten seine politischen Ansichten geändert? Seine Nichte vermutet das, anders kann sie sich keinen Reim auf ihren philosemitischen Onkel machen. Freilich konnte man auch als Nationalist guten Umgang mit Juden pflegen. Mochten antisemitische Hetzer auch gern behaupten, „der Jude“ sei gewissermaßen ein geborener Vaterlandsverräter, so war das doch ausgemachter Unfug. Viele deutsche Juden verstanden sich als Patrioten, dem Zionismus konnten sie nichts abgewinnen – warum in Palästina eine neue Heimat suchen, wenn man sich mit Stolz zum Deutschtum bekannte?
Mit anderen Worten, Kunath musste vielleicht überhaupt keinen Gesinnungswandel durchmachen. Mit anderen Worten, Kunath musste vielleicht überhaupt keinen Gesinnungswandel durchmachen. Gut möglich, dass er sich gerade als Patriot über die Diskriminierung der Juden empörte. Und deshalb bereit war, geltendes Gesetz zu brechen. Mit der „Reichsfluchtsteuer“ hatten die NS-Behörden ein Instrument gefunden, ausreisewillige Juden finanziell zu schröpfen. Wer Deutschland verlassen wollte, verlor einen beträchtlichen Teil seines Vermögens. Kunath riskierte Kopf und Kragen, wenn er beim illegalen Transfer jüdischen Vermögens ins Ausland half.
Dafür handfeste Belege zu finden, ist begreiflicherweise nicht einfach. Bei seinen Recherchen für sein Buch zur Arisierung jüdischen Haus- und Grundbesitzes in Bremen ist der Historiker Hanno Balz zwar nicht auf den Namen Kunath gestoßen. Doch das muss nichts heißen. „Zu der Frage, ob jemand den jüdischen Arisierungsopfern geholfen hat, lässt sich zunächst nur sagen, dass dies ja nur unter der Hand geschehen konnte und im Geheimen erfolgen musste“, sagt der mittlerweile in Cambridge lehrende Experte.
Mit schriftlichen Quellen ist bei so einer brisanten Tätigkeit also kaum zu rechnen. Kunath wäre schön blöd gewesen, wenn er Quittungen gesammelt hätte. Das Aktenmaterial der Gestapo wurde zu großen Teilen vernichtet. Auch die Zeitzeugen sind längst tot, so seine Schwester Hanna, die ihm sehr nahe gestanden haben soll. „Sie hatten beide einen frechen Schnabel, eine gute gemeinsame Basis“, sagt ihre Nichte.
Anwalt mit jüdischer Klientel
Immerhin lässt sich mit einiger Sicherheit nachweisen, dass Kunath tatsächlich jüdische Klienten vertreten hat. Am 14. Februar 1934 wandte er sich mit einer Anfrage an die Regierungskanzlei im Rathaus. Sein Begehr: „In einer Grundstücksangelegenheit benötige ich eine obrigkeitliche Bescheinigung, dass die Israelitische Gemeinde in Bremen Rechtsfähigkeit besitzt.“ Drei Tage später wurde die verlangte Bescheinigung ausgestellt.
Womöglich hatte man ihn seither auf dem Schirm. Ein arischer Anwalt, der Juden vertrat – das dürfte schon vor den Nürnberger Rassengesetzen vom September 1935 für Unmut gesorgt haben. Es ist vielleicht kein Zufall, dass sich ausgerechnet in diesem Zeitraum ein Behördenmitarbeiter für Kunaths heute verschollene Personal- und Prüfungsakte interessierte. Angelegt wurde sie 1922 zu Beginn seiner Referendariats. Laut handschriftlichem Vermerk auf dem Aktendeckel wurde sie am 16. Dezember 1936 angefordert. Wollte da jemand wissen, mit wem man es zu tun hatte?
Wann Kunath mit seiner Hilfeleistung anfing, wie viel Vermögen er dem Zugriff der Behörden entzog oder wie oft er in die Schweiz reiste, liegt im Dunkeln. Durchaus denkbar, dass sich die Situation für Kunath nach dem Novemberpogrom von 1938 dramatisch zuspitzte. Dass er jetzt öfter Geldtransfers in die Schweiz abwickelte. Die Gewaltexzesse gerade in Bremen mit fünf Mordopfern bewog etliche Juden, eine Emigration nun doch in Erwägung zu ziehen.
Ein gutes halbes Jahr später tauchte die Gestapo in seiner Kanzlei auf. Fürchtete Kunath, es würde sich doch kompromittierendes Material anfinden? Oder konnte er den Druck nicht mehr verkraften? Offene Fragen, die Kunath mit ins Grab genommen hat.
Irgendwann in der Nacht auf den 5. Juni 1939 oder am frühen Morgen muss sich Kunath aus seinem Haus an der Parkstraße 36 geschlichen haben. Zum Bürgerpark war es nicht weit. „Mit der Pistole hat er sich erschossen“, sagt Hadwig Hauser. Kunath hinterließ seine Frau Claire, die er im September 1934 geheiratet hatte. Aber keine Kinder. „Ohne Kinder fällt es einem vielleicht einfacher, einen solchen Entschluss in die Tat umzusetzen“, sagt seine Nichte.
Von der wahren Todesursache war öffentlich natürlich keine Rede. In der Todesanzeige der Familie hieß es, er sei „plötzlich von uns gegangen“, was ja sogar auf fatale Weise zutraf. Seine Mitarbeiter sprachen davon, der liebe Kollege und verehrte Chef sei „unerwartet“ von ihnen geschieden. Von Beileidsbesuchen wollte die Familie nichts wissen. Darauf, dass sein Suizid wirklich in Bremen stattfand und nicht in der Schweiz, deutet die Aufbahrung in einem Bremer Beerdigungsinstitut hin. Drei Tage nach seinem Tod fand die Trauerfeier im Krematorium des Riensberger Friedhofs statt.
Für seine Schwester Hanna hatte das Ganze „gravierende Folgen“, wie Hadwig Hauser sagt. Die damals 29-jährige Fliegerin war in der Verwaltung der Bremer Sportstätten beschäftigt. „Sie wurde sofort entlassen.“ Ihren Geburtstag nur sechs Tage nach seinem Tod dürfte sie kaum genossen haben. Als einzige der frühen Pilotinnen weigerte sich Hanna Kunath später, Flugzeuge von den Fabriken an die Front zu fliegen.