Wilhelm Kaisen als Vorkämpfer der Deutschen Einheit
Was hat Bremen mit der deutschen Einheit zu tun? Mehr als man denkt. Denn Bürgermeister Wilhelm Kaisen war ein profilierter Deutschlandpolitiker, auf seine Initiative trafen sich 1946 die deutschen Landeshäupter zu zwei Interzonenkonferenzen in Bremen. Auf ihn geht auch die Gründung der Deutschen Bruderhilfe als Hilfsaktion von unten zurück. Sogar bei der Abfassung der bekannten Mahnworte am Deutschen Haus am Markt hatte Kaisen seine Finger im Spiel.
Als Mann des Ausgleichs gilt Bürgermeister Wilhelm Kaisen. Doch er konnte auch anders, konnte auch durchaus mal provozieren. So bei einer Rede 1959 in Berlin, als er als Präsident des Bundesrats ein Loblied auf Preußen sang. Desselben Preußenstaats, der als Inbegriff von Untertanengeist und Militarismus galt. Als Startpunkt des viel beschworenen „deutschen Katastrophenwegs“ in den Nationalsozialismus. „Ich endete mit der Hoffnung“, schreibt Kaisen in seinen Erinnerungen, „den Tag noch zu erleben, an dem Berlin nicht nur wieder die Hauptstadt Deutschlands, sondern auch die Hauptstadt Preußens sei.“
Man sieht an solchen Äußerungen: Die deutsche Frage hat Kaisen nicht losgelassen. Auch dann nicht, als die deutsche Teilung nach Gründung der beiden deutschen Staaten im Herbst 1949 fürs erste zementiert war. Über ihren Stellenwert im Alltagsbewusstsein der Menschen machte sich Kaisen unterdessen keine Illusionen. „Es wäre nach meinen Beobachtungen übertrieben, zu sagen, daß unsere Bevölkerung leidenschaftlichen Anteil nehme an der Auseinandersetzung über die Lösung der deutschen Frage“, bemerkte er süffisant in seinen 1967 publizierten Memoiren.
Das CARE-Programm als Vorbild
Was ihn damals mit Sorge erfüllte, trieb ihn auch schon zu Beginn der 1950er Jahre um. Das „Wirtschaftswunder“ der Adenauer-Jahre zeigte Wirkung. Je besser es den Menschen im Westen ging, desto mehr erlahmte ihr Interesse an den Verhältnissen in der „Zone“ oder „Mitteldeutschland“, wie die DDR unter strikter Leugnung ihrer Existenz genannt wurde. Für Kaisen, damals schon längst ein profilierter Deutschlandpolitiker, war das eine höchst betrübliche Erfahrung. Als Gastgeber zweier Interzonenkonferenzen zur Lösung der deutschen Frage hatte er 1946 aufhorchen lassen. Nach seiner Überzeugung durfte die deutsche Teilung nicht aus dem Bewusstsein der Menschen verschwinden.
Einen passenden Anlass, diese Überzeugung mit Leben zu erfüllen, boten im Herbst 1951 erste Alarmmeldungen über prekäre Versorgungsverhältnisse in der DDR. Kaisen kam ins Grübeln, erinnerte sich an das amerikanische CARE-Programm unmittelbar nach Kriegsende. Könnte nicht eine breit angelegte Hilfsaktion nach diesem Vorbild für Linderung sorgen? Um die Möglichkeiten eines solchen Vorhabens auszuloten, lud Kaisen am 12. Oktober 1951 einflussreiche Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu einer Besprechung ein – die Geburtsstunde der Deutschen Bruderhilfe.
Die DDR witterte Sabotage
Die Deutsche Bruderhilfe entwickelte sich schon bald zu einem viel beachteten Erfolgsmodell. Dabei half auch eine flächendeckende Plakataktion in Bremen. Unter dem Motto „Deutsche, helft Deutschen“ wurden innerhalb der ersten beiden Monate 20.000 Pakete versandt.
Freilich nicht unbedingt zur Freude der DDR-Behörden. Die argwöhnten im Oktober 1952, mit Hilfe von Geschenksendungen solle der Aufbau ihrer Friedenswirtschaft sabotiert werden. Die Folge: Als Organisation durfte die Bruderhilfe ab 1954 nicht mehr in Erscheinung treten, zugelassen waren nur noch Sendungen von und an Privatpersonen. Im Grunde entsprach das auch dem Konzept der Bruderhilfe, deren Organisatoren stolz waren auf die Vielzahl von neuen Kontakten, die auf diesem Wege zwischen Ost und West vermittelt wurden.
Ihre erste Unterkunft hatte die Bruderhilfe im Gebäude Am Wall 199. Doch die Räumlichkeiten erwiesen sich rasch als nicht ausreichend, auf Vorschlag von Finanzsenator Dr. Wilhelm Nolting-Hauff erfolgte im Februar 1957 der Umzug in die früheren Bürgerstuben am Marktplatz. Als „Deutsches Haus“ diente das markante Eckgebäude der Bruderhilfe bis zu ihrer Auflösung im Juni 1991 als Unterkunft.
Inschrift am Deutschen Haus in der Kritik
Ein besonderes Kapitel bildet die Inschrift „Gedenke der Brüder, die das Schicksal unserer Trennung tragen“ auf der Marktseite des Deutschen Hauses. Auch weil Kaisen als Initiator der Bruderhilfe dabei eine besondere Rolle spielte. Allerdings wurde die Inschrift keineswegs auf seinen Vorschlag hin befestigt, wie eine ergänzende Erläuterung weismachen will. Der Leiter des Staatsarchivs, Dr. Konrad Elmshäuser, sieht darin eher einen Kniff, um Diskussionen um ihren Verbleib nach Ende der deutschen Teilung die Grundlage zu nehmen. Der Erhalt des Sinnspruchs sei durch Kaisens Autorität gesichert worden, schreibt Elmshäuser.
Angebracht wurden die Mahnworte bereits im Juli 1955 und damit knapp eineinhalb Jahre bevor die Bruderhilfe das gründlich sanierte Eckgebäude am Markt bezog. Unmittelbarer Anlass war der Auftakt der Genfer Gipfelkonferenz, des ersten Treffens der Spitzenvertreter der alliierten Siegermächte seit der Potsdamer Konferenz von 1945. Die damit verknüpften Hoffnungen auf Fortschritte bei der Lösung der deutschen Frage sollten sich allerdings nicht erfüllen.
Ursprünglich war geplant, die Metalllettern nach einem dreiviertel Jahr wieder zu entfernen. Vielleicht auch, weil das Bauaufsichtsamt den Schriftblock wegen seiner „werblichen Wirkung“ äußerst kritisch beurteilte, ja sogar mit Hinweis auf die „Verunstaltungsgesetze“ eine Genehmigung kategorisch ausschloss. Im Oktober 1957 gab es dann aber doch grünes Licht in Form einer dauerhaften Sondergenehmigung: Auf Beschluss des Senats sollte der Gedenkspruch weder durch einen anderen ersetzt noch „gar entfernt“ werden.
Spekulationen über den Verfasser
Über den Verfasser der Inschrift herrscht bis heute Unklarheit. Ins Reich der Legende verweist Staatsarchivleiter Elmshäuser die Behauptung, die heute sehr pathetisch klingenden Worte gingen auf den Bremer Dichter Rudolf Alexander Schröder zurück. Vielmehr vermutet er die geistigen Väter in den Reihen der Bruderhilfe.
Interessant ist der leicht abweichende Wortlaut der ersten Version. Die klang noch so: „Gedenke der Brüder, die unser Schicksal der Trennung tragen!“ Kaisen indes meldete Bedenken an und setzte eine geringfügig geänderte Version durch: „Gedenke der Brüder, die das Schicksal unserer Trennung tragen!“ Elmshäuser findet, Kaisens Intervention habe sich zum Vorteil ausgewirkt, der etwas holperige Sinnspruch sei eleganter und prononcierter geworden.
Die Mahnworte als Chefsache – ein weiterer Beleg dafür, wie wichtig Kaisen das Thema der deutschen Einheit war. Dass eine Wiedervereinigung in den Grenzen von 1937 utopisch war, dürfte ihm bereits vor der offiziellen Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze klar gewesen sein. „Es wird nicht das Deutschland wiedererstehen, das wir Älteren in unserer Jugend gekannt haben“, schrieb er 1967. „Aber trotz all der neuen Realitäten gibt es keine andere Alternative für Deutschland als die Wiederherstellung seiner Einheit auf der Grundlage des demokratischen Rechtsstaates.“
von Frank Hethey