Deutschland–Nordirland, 2. Juni 1992 im Bremer Weserstadion
Zu meiner Linken sitzen drei Menschen aus der alten Heimat: Kerry, Austauschstudentin von der University of Ulster in Coleraine, im siebten Monat schwanger; ihr Lebenspartner Damian und deren fünfjährige Tochter Molly. Zu meiner Rechten sitzen drei Deutsche: unser Sohn Peter (acht Jahre alt), unser Freund Horst und sein Sohn Tilman (zehn Jahre). Ich schaue wieder der nordirischen Nationalmannschaft zu, dieses Mal aber nur drei Minuten Fußweg von meiner deutschen Wohnung entfernt. Die Sitzordnung ist symbolisch; ich bin der Vermittler, der Grenzgänger, der Simultanübersetzer. Nach links plaudere ich auf Englisch mit Kerry and Damian, erkläre alles der kleinen Molly; rechts höre ich auf Deutsch zu, wie Peter sich darüber erstaunt, zum ersten Mal Rudi Völler and Jürgen Klinsmann ‚in echt’ zu sehen. Es ist sein allererstes Spiel live im Stadion.
Wir wohnen direkt neben dem Stadion, also konnte ich in der Mittagshitze in seinem kühlen Schatten längst vor dem Anstoß flanieren gehen. Ich schaute zu, wie die Souvenir- und Bratwurstverkäufer ihre Buden aufbauten. An einem kam ich vorbei, den ich von samstags nachmittags kannte, einem, der bei Heimspielen Werderschale und -fahnen verkauft. Über seiner kleinen Hütte hing – in Freundschaft mit der schwarz-rot-goldenen Trikolore meiner Wahlheimat gekreuzt – die grün-weiß-orange Trikolore der irischen Republik, also des falschen Teils der grünen Insel, aus der ich komme. Ich wies ihn auf seinen Fehler hin, gab ihm kurz Nachhilfeunterricht in der irischen Landeskunde. Wie hätten Sie es gefunden, wenn Sie vor der Wende zum Länderspiel in Belfast angekommen wären, und da flattert vorm Stadion die Fahne der DDR? Aber er blieb unbeeindruckt.
Plötzlich, und unerwartet, unglaublich führt Nordirland eins–null. Vier von uns sieben springen hoch. Kerrys ungeborenes Kind kommt dem Herrn in der Reihe vor ihr gefährlich nah. Molly schmeißt ihre Cola um. Damian und ich umarmen uns. In diesem glorreichen Augenblick wende ich mich mit erhobenen Armen dem weiten Bogen der Westkurve zu und blicke auf ein Meer von versteinerten Gesichtern, darunter das meines Sohnes.
Die nordirischen Fans singen protestantisch-loyalistische Lieder
Auf den Stehplätzen unter uns feiert ekstatisch eine Traube von nordirischen Skinheads. Seit lange vor dem Anstoß singen sie eine aggressive Auswahl von protestantisch-loyalistischen Liedern, und zwar in einem halsbrecherischen Punk-Tempo, auf das die Pogues stolz wären. Sie tragen rot, weiß, blau – und die orange Farbe ihres niederländischen Helden ‚King Billy’ –William III; weit und breit kein grün. In der Halbzeitpause verbrennen sie die irische Trikolore, die ich draußen gesehen habe. Ich habe ihm doch Bescheid gesagt. The man can’t say I didn’t warn him. Als ich aufstehe, um mich zu strecken und den lädierten Rücken zu entlasten, klopft mir einer auf die Schulter und fragt: Was sind Sie eigentlich für einer? Ich erkläre ihm meinen Loyalitätskonflikt und fühle mich unsicher.
In der zweiten Halbzeit greift die deutsche Elf unentwegt das Tor von Tommy Wright an. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Logik und der Verstand sich durchsetzen. Deutschland gleicht aus und am Ende können wir froh sein, dass es beim Unentschieden bleibt. Die Gruppe unter uns unterbricht keine Sekunde lang ihre bigotte Begeisterung. Beim Abpfiff passiert dann was Unglaubliches. Der nordirische Spielführer Mal Donaghy, vom Namen her für Nordirland-Kenner eindeutig katholisch und daher kein Freund von Loyalistenliedern, kommt an den Zaun, wo die Skins stehen, und dankt ihnen für ihre Unterstützung! Die deutschen Zuschauer um mich herum applaudieren ihm wiederum. Wie könnte ich ihnen erklären, was da abgeht?
Abdruck aus Ian Watson, Spielfelder: eine Fußballmigration. Edition Falkenberg | ISBN 978-3-95494-097-4 | lieferbar ab 2. Juni 2016
von Ian Watson