Vor 60 Jahren: Fertigstellung der Gartenstadt Vahr / Unter den Bremer Nachkriegssiedlungen die beste Umsetzung der Idee einer „Stadtlandschaft“
Die Gartenstadt Vahr war die erste große Bremer Wohnsiedlung, die auf der „grünen Wiese“ entstand. Weitaus konsequenter als zuvor beim Wiederaufbau des Bremer Westens kam dabei die Idee einer „Stadtlandschaft“ zur Geltung. Ursprünglich war von „Grünstadt in der Vahr“ die Rede. Ein wichtiger Programmpunkt, denn Grünzüge begleiten Straßen und Wege, die Gebäude sollten wie organisch gewachsen wirken. Weshalb auch Parallelität und rechtwinklige Zuordnungen vermieden wurden, kaum ein Gebäude nimmt den gleichen Winkel wie sein Nachbar ein.
Wenn man sich mit der Buslinie 25 vom Bahnhof aus auf die etwas eintönige halbstündige Fahrt in den Stadtteil Osterholz begibt, wird man im Abschnitt zwischen Müdener und Stellichter Straße buchstäblich wachgerüttelt. Huckeliges Kopfsteinpflaster und eine Links-Rechts-Links-Kombination der Straßenführung könnten auf die Durchfahrt durch einen historischen Dorfkern schließen lassen. Schaut man aber zum Fenster hinaus, sieht man moderne Gebäude, die allerdings schon ein wenig in die Jahre gekommen sind. Wir befinden uns in der Gartenstadt Vahr.
Als die Gartenstadt Vahr Mitte der 1950er Jahre fertig gestellt wurde, war sie die zweite Großsiedlung, die in Bremen neu geschaffen wurde, um die große Wohnungsnot in der Stadt, die durch Kriegszerstörung und Bevölkerungswachstum entstanden war, in den Griff zu bekommen. Weitere Großsiedlungen sollten – unterstützt durch das im Februar 1956 von der Bürgerschaft beschlossene „Gesetz zur Behebung der Wohnungsnot im Lande Bremen“ – folgen.
Die Gartenstadt Vahr war das erste Wohnquartier, dem ganz die Ideen des modernen Städtebaus zugrunde gelegt wurden – das trifft zumindest für ihren Hauptteil zu. Als ein paar Jahre zuvor das erste große Siedlungsprojekt mit dem Wiederaufbau des zerstörten Bremer Westens begonnen wurde, war das nicht ganz so möglich. Der moderne Städtebau, wie er in der berühmten „Charta von Athen“ bereits um 1930 vorgezeichnet war, sah eine Auflösung der verdichteten, als ungesund empfundenen innerstädtischen Wohn- und Arbeitsquartiere vor. Die städtischen Funktionen Wohnen, Arbeiten, Verkehr und Freizeit sollten nun getrennt werden. Die Gebäude in den neuen Wohnquartieren waren nicht mehr wie früher baublockweise entlang von Straßen angeordnet, vielmehr sollten sie frei in einem fließenden Landschaftsraum eingefügt werden.
Neue Wohnideen im Bremer Westen nur teilweise umgesetzt
Das war im neuen Bremer Westen nur zum Teil gelungen. Unter anderem wäre es dort zu kostspielig gewesen, die unterirdische Infrastruktur (Kanalisation etc.), die entlang der alten Straßen verlief, komplett zu erneuern. Zudem drängte hier eine Vielzahl der alten Besitzer zerstörter Bremer Häuser darauf, wieder in einem Reihenhaus zu wohnen, was sich aber längst nicht alle leisten konnten oder wollten.
Die unterschiedlichen Wohnwünsche und -bedürfnisse spiegelten sich nicht zuletzt auch in der Wohnungspolitik der nach dem Krieg entstehenden großen Wohnungsbaugesellschaften wider. Während die „Gewoba“ (Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft mbH) vor allem den modernen Geschosswohnungsbau in Wohnzeilen und Hochhäusern bevorzugte, setzte sich die „Bremer Treuhand“ (Bremer Treuhandgesellschaft für den Wohnungsbau) gezielt für die Förderung der Eigenheimbaus in der Tradition der Bremer Hauses ein.
Die Gartenstadt Vahr war nun die erste große Wohnsiedlung, die auf der „grünen Wiese“ entstand. Hier konnte von der Gewoba die Idee des modernen Wohnens in einer „Stadtlandschaft“ konsequenter als im Bremer Westen umgesetzt werden. Um dieses Ziel zu erreichen, wurde mit Ernst May ein prominenter Architekt und Städteplaner eingeschaltet. May hatte bereits in den zwanziger Jahren als Frankfurter Stadtbaurat vorbildliche moderne Wohnsiedlungen verwirklicht. Während der NS-Zeit emigrierte er nach Afrika. Erst 1954 kehrte er nach Deutschland zurück und wurde in Hamburg Planungsleiter der Neuen Heimat, einer Wohnungsbaugesellschaft, die eng mit der Gewoba verbunden war.
Im Entwurf hieß es noch „Grünstadt in der Vahr“
Fast zeitgleich mit seinem Entwurf für die Siedlung in der Vahr, den er „Grünstadt in der Vahr“ nannte, entwarf May in Bremerhaven die Siedlung Grünhöfe. In beiden Fällen ist das „grün“ im Namen zugleich ein wichtiger Programmpunkt. Grünzüge begleiten Straßen und Wege. Die Idee einer „Stadtlandschaft“ manifestiert sich aber bei diesen beiden Entwürfen auch in der unregelmäßigen, organisch wirkenden Anordnung der Gebäude im Lageplan. Parallelität und rechtwinklige Zuordnungen werden vermieden, kaum ein Gebäude nimmt den gleichen Winkel wie sein Nachbar ein. Und die Straßen und Wege verlaufen gekurvt.
Auch das Ansteigen der Gebäudehöhen vom Rand zur Mitte hin, die mit einem Hochhaus besetzt ist, gehört zu diesem organischen Gestaltungskonzept.
Später wurde der Entwurf für die Bremer Siedlung etwas modifiziert. Und ihr Name änderte sich: statt „Grünstadt“ hieß sie nun „Gartenstadt Vahr“, wie wir heute noch den Ortsteil nennen. Eine Bezeichnung, die übrigens etwas irreführend ist, weil sich die um die Jahrhundertwende von England aus auf den ganzen Kontinent ausbreitenden historischen Gartenstädte eher das Kleinhaus und keinen Geschosswohnungsbau favorisierten.
Die beiden Bremer Architekten Max Säume und Günther Hafemann, für die Gewoba schon im Bremer Westen tätig, bildeten nun mit May eine Arbeitsgemeinschaft. Der Entwurf wurde etwas regelhafter. Vielleicht eine notwendige Maßnahme, um den Kostenrahmen einzuhalten. Ein paar Jahre später planten dann die drei Architekten zusammen mit ihrem Hamburger Kollegen Hans Bernhard Reichow für die Gewoba die etwa fünf Mal größere Neue Vahr. Hier wurde eine Rationalisierung in der Anordnung der Baukörper gegenüber der freieren organischen Anordnung in der Gartenstadt weiter vorangetrieben.
Landschaftlich gegliedertes Wohnquartier in der Gartenstadt Vahr gut umgesetzt
Von heute aus betrachtet kann man festhalten, dass die Idee eines landschaftlich gegliederten Wohnquartiers am ästhetisch anspruchsvollsten in der Gartenstadt Vahr umgesetzt wurde. Die Kritik an einem Schematismus, den man schon bald im Zusammenhang mit der Neuen Vahr hören wird, und die Kritik an einer architektonischen Mittelmäßigkeit, die man auf Siedlungen wie Huchting, Neu-Schwachhausen oder Leher Feld anwenden kann, sind in der Gartenstadt Vahr fehl am Platz. Mit Schulen, Kirchen, Supermarkt, ja sogar einem Kino, war das neue Quartier auch infrastrukturell gut versorgt. Die von Säume und Hafemann entworfene sogenannte Schmetterlingsschule verkörpert eine besonders interessante Variante des damals in Bremen vorherrschenden Typus der Pavillonschule.
An dem klaren Erscheinungsbild dieser modernen Wohnsiedlung trübte einzig und allein die Tatsache, dass sie südlich der Amelinghauser Straße abrupt ihren Charakter einbüßte. Hier begann der Teil, der von der Bremer Treuhand bebaut wurde, und der aus eher langweiligen Reihenhauszeilen gebildet wurde. Man kann heute darüber streiten, ob die üblichen Individualisierungen solcher Reihenhäuser inzwischen dem Gesamtbild zum Vor- oder Nachteil dienen.
Der nördliche Gewoba-Teil hat sein Erscheinungsbild weitgehend gewahrt. Durch den stattlich gewachsenen Baumbestand wurde der Parkcharakter der Siedlung weiter gestärkt. Betrachtet man historische Farbfotos, kann man auf den Gedanken kommen, dass die ursprüngliche Farbgebung vielleicht mutiger war. An einigen Stellen wurde um die Jahrtausendwende behutsam „nachverdichtet“. Ein jüngstes Projekt dieser Art, ein Atriumhaus der Rotterdamer Architekten Kempe Thill, das einen Garagenbau an der Wilseder-Berg-Straße ersetzen sollte, fand aber bei den Bewohnern keine Zustimmung.
von Prof. Dr. Eberhard Syring