Dass der Polizeieinsatz gegen die Gladbecker Geiselnehmer in Bremen ein Misserfolg war, wurde schon an den Fernsehbildern deutlich, die am 17. August das Geschehen in Huckelriede einfingen. Aus heutiger Sicht spricht Polizeipräsident Lutz Müller von einer Katastrophe.

Wie war das möglich? Ein Untersuchungsausschuss der Bürgerschaft sollte dieser Frage nachgehen. Er wertete den aufgezeichneten Funkverkehr und die Telefonate der Polizei aus, sichtete Protokolle sowie Filmmaterial und erzwang vor Gericht die Herausgabe nicht gesendeten Materials von Radio Bremen. Zwischen November 1988 und Juni 1989 hörte der Ausschuss insgesamt 77 Zeugen.

Das Ergebnis: eine Aneinanderreihung organisatorischer Fehler, Fehleinschätzungen, technischer Pannen, Dienstanweisungsverletzungen, Kommunikationslücken, Eigenmächtigkeiten und mit fortschreitender Einsatzdauer wachsender Unklarheiten über Aufgabenverteilungen und Zuständigkeiten bei einer, wie Ausschussmitglied Martin Thomas (Grüne) es formulierte, „völlig überforderten Bremer Polizei“.

Einen großen Teil seiner Aufmerksamkeit verwandte der Untersuchungsausschuss auf die Organisation und Struktur der Polizeiführung bei sogenannten Großlagen, zu denen auch Geiselnahmen gehören. Diese Struktur entsteht nicht immer wieder neu entlang von Sachlagen oder Notwendigkeiten, sondern sie ist vorgeschrieben – eine Dienstvorschrift.

Schon damit klappte es nicht in Bremen. Das Lagezentrum war nach den Untersuchungen des Ausschusses zwar besetzt, nicht aber die Stäbe, und das hieß nach den Feststellungen des Ausschusses: Zwingend notwendige Aufgaben wurden nicht erledigt. Zwei der folgenreichsten Versäumnisse: Der Tatort in Huckelriede wurde nicht abgesperrt, sodass die Polizei keine Kontrolle über das Geschehen hatte, und die auf der Raststätte Grundbergsee schwer verletzte Geisel Emanuele de Giorgi konnte nicht sofort versorgt werden, weil kein Arzt in der Nähe war.

Der „Geisel-Untersuchungsausschuß“ der Bürgerschaft (Jochen Stoss/Staatsarchiv Bremen)

Schwer nachvollziehbar bis gefährlich

Der Untersuchungsbericht beschreibt chaotische Zustände im Lagezentrum: Während etwa nach Angaben von Zeugen Landeskriminaldirektor Möller als Polizeiführer fungierte, gab es offenbar unterschiedliche Wahrnehmungen über den Leiter des Führungsstabes, der Möller hätte zuarbeiten müssen. Aus Sicht von Möller lag die Funktion bei Polizeioberrat Spychala.

Der war allerdings der Auffassung, dass der Führungsstab formal gar nicht zusammengetreten war und folglich eine solche Funktion überhaupt nicht existierte. Spychala gab zu Protokoll, dass er die Dienstanweisungen für den Polizeiführungsstab im Falle einer Geiselnahme „nur in etwa“ gekannt habe. Als schwer nachvollziehbar bis gefährlich beschreibt der Untersuchungsausschuss die fehlende Zusammenarbeit der Bremer Polizei mit der Einsatzleitung im nordrhein-westfälischen Gladbeck.

Bis in den Nachmittag hinein hatte die Bremer Polizei lediglich unterstützende Funktion – was zeitweise einem Blindflug glich. Weder waren die bremischen Polizeikräfte in den von Gladbeck aus geführten Einsatz eingebunden, noch wussten sie etwas über die Zahl oder die Standorte der nordrhein-westfälischen Polizeieinheiten.

Spätestens nach der Kaperung des BSAG-Busses durch die Täter um 19.06 Uhr werden die Forderungen dringlicher, den Tatort abzusperren. Aber wie sich aus den Funkprotokollen ergibt (siehe unten), geschieht nichts. Als der Bus mit den Geiseln von Huckelriede kommend an der Raststätte Grundbergsee eintraf, hatte sich die Führung der Polizeikräfte dort dem Untersuchungsbericht zufolge praktisch aufgelöst. Die Verhaftung der Mittäterin Marion Löblich, während Dieter Degowski und Hans-Jürgen Rösner mit 30 Geiseln im Bus auf deren Rückkehr warten, ist für den Ausschuss „nicht zu verantworten“.

In Bremen, wo die Verhaftung Löblichs offenbar nicht bekannt war, braucht das Lagezentrum laut Untersuchung acht Minuten für den Befehl, sie freizulassen. Beim Sondereinsatzkommando herrscht laut Zeugenaussagen Unsicherheit darüber, wo sich die Verhaftete befindet. Es heißt, sie sei auf dem Weg nach Bremen, was sich als unzutreffend herausstellt. Die Freilassung Löblichs gelingt nicht innerhalb der von den Tätern gesetzten Frist. Emanuele de Giorgi wird erschossen.

Funkprotokoll-Auszug

19.21 Uhr: „Also langsam müssen mal Verkehrsmaßnahmen getroffen werden, die Straße muss zugemacht werden, hier ist zuviel Verkehr.“

19.28 Uhr: „Werden immer noch Fußgänger reingelassen in das Gebiet, das kann doch wohl nicht angehen.“

19.31 Uhr: „Fußgänger an der Haltestelle
Huckelriede passieren wieder die Sperren und gehen in Richtung Bus.“

19.45 Uhr: „Jetzt muss mal langsam der Platz hier geräumt werden. Das ist ja schlimm, Mensch.“

19.47 Uhr: „Wenn wir hier nicht bald uniformierte Kräfte herkriegen, die die Passanten aufhalten, sehen wir uns außerstande, die Sicherheit zu gewährleisten.“

19.49 Uhr: „Einer der Täter hat den Bus verlassen, und die Passanten laufen ihm laufend gegenüber oder entgegen.“

Der Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses der Bremischen Bürgerschaft ist unter https://bremische-buergerschaft.de/presse/1989-10-27_Abschlussbericht_UA_Geiseldrama_Gladbeck.pdf einsehbar.

von Michael Lambek

In dieser Bank in Gladbeck begann das Geiseldrama am 16.08.1988. (Franz-Peter Tschauner)

Von Anbiet bis Zuckerklatsche

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