Offiziell läuft in diesem Jahr der 985. Freimarkt – doch die Zählweise ignoriert etliche Aussetzer

Mit der unerbittlichen Präzision eines Uhrwerks nähert sich der Freimarkt seinem Jubiläum, im Jahr 2035 steht nach gängiger Zählweise der 1000. Geburtstag an. Per Urkunde gestattete Kaiser Konrad II. am 16. Oktober 1035 dem damaligen weltlichen und geistlichen Herrscher, Erzbischof Adalbrand, zweimal jährlich eine „Jahrmarktsgerechtigkeit“ abzuhalten. Gern wird der Freimarkt deshalb als eines der ältesten Volksfeste Deutschlands gerühmt. „Vom Hamburger Dom stammt die früheste Nachricht aus dem Jahre 1334, und das Münchner Oktoberfest gibt es erst seit 1810“, so der WESER-KURIER am 16. Oktober 1971 voller Stolz.

Gute Stimmung: Freimarktsbesucher im Oktober 1957.
Foto: Georg Schmidt

Allerdings stimmt etwas mit der Zählweise nicht. Nach Lesart der offiziellen Freimarkt-Website findet in diesem Jahr die 985. Auflage statt – der kurzlebige „Freipark“ vom vergangenen Herbst wird als vollwertiger Freimarkt nicht mitgezählt. „Schon allein, weil er ja auch gar nicht ‚Freimarkt‘ hieß“, teilt das Wirtschaftsressort mit. Bei der Millenniumsfeier 2035 hätten wir es demnach mit der 999. statt der 1000. Auflage zu tun.

Doch wie aus verlässlicher Quelle verlautet, gibt es behördeninterne Gegenstimmen. Danach sollte man sich bei der Zählung nicht an den tatsächlich durchgeführten Märkten orientieren. Sondern an den verflossenen Jahren seit 1035 – und das seien 986. Diese Zahl für die aktuelle Veranstaltung sei daher „wesentlich konsequenter gewählt“ als die 985. Denn: „In den vergangenen Jahrzehnten wurden die Kriegsjahre trotz Ausfall immer mitgezählt.“ Das Coronajahr nicht mitzuzählen, dafür aber die Kriegsjahre, halten die Experten für inkonsequent.

Tatsächlich war die coronabedingte Absage von 2020 alles andere als ein Novum. Schon vorher ist der Freimarkt mehrfach ausgefallen. Zuletzt im Zweiten Weltkrieg von 1940 bis 1944, davor in den Jahren des Ersten Weltkriegs (mehr zum Freimarkt 1945). Der Schriftsteller Johann-Günther König, Autor eines Buchs zur Geschichte des Freimarkts, nennt noch weitere Aussetzer in den Seuchenjahren 1350 und 1892 oder 1666 bei der Belagerung Bremens durch die Schweden.

Mit anderen Worten: Ob man nun vom 985. oder 986. Freimarkt spricht, beides ist schlichtweg falsch.  Entsprechend kritisiert Freimarkt-Experte König die offizielle Zählung: „985 ist entschieden zu hoch gegriffen.“ Seiner Einschätzung nach müsste man mindestens 15 Veranstaltungen abziehen, um auf eine realistische Zahl zu kommen. „Bestenfalls 970“ Auflagen dürfte der Freimarkt seiner Meinung nach bislang wirklich erlebt haben. Soll heißen: Wir haben es mit einer fiktiven Zahl zu tun.

Womöglich ließe sich die Zahl sogar noch deutlicher nach unten korrigieren. Dann nämlich, wenn man nicht das Jahr 1035 als Auftaktjahr annimmt. Die „Bremer Zeitung“ belehrte ihre Leserschaft im Oktober 1935, der Freimarkt sei 553 Jahre alt – und nicht 900 Jahre, wie er es nach heutiger Zählweise gewesen wäre. Die Grundlage des Rechenexempels: Erst am 29. März 1382 hätten sämtliche Bürgermeister und Ratsherren beschlossen, regelmäßige Märkte einzuführen. „In diesen Dekreten, die vom Rat über die Handhabung der freien Märkte verfasst wurden, fällt zum ersten Mal das Wort vom freien Markte.“

Alternativer Standort: der Freimarkt am Grünenkamp in der Neustadt.
Quelle: Archiv

Entscheidung fiel relativ spät

Schon damals sorgte die korrekte Datierung für Kontroversen. Die „Bremer Nachrichten“ warfen im Oktober 1939 die Frage auf, wie alt der Freimarkt denn nun sei – 600 oder 904 Jahre? Eine Antwort gab im November 1939 der Bremer „Schlüssel“ mit der unmissverständlichen Ansage „600 Jahre Bremer Freimarkt“. Freilich waren auch noch ältere Terminierungen im Rennen: nämlich zwei Marktprivilegien von 888 und 965.

Endgültig legte man sich erst relativ spät auf ein Gründungsjahr fest. Bremen habe sich 1985 für das Jahr 1035 entschieden, so der frühere Staatsarchivleiter Hartmut Müller. Nicht ganz ohne Hintergedanken, wie man vermuten darf – konnte Bremen doch damit 1985 das 950-jährige Freimarktjubiläum feiern. Mit anderen Worten: Das Auftaktjahr des Freimarkts war lange strittig und wurde am Ende mehr oder weniger willkürlich festgesetzt, weil es gerade so schön passte.

Bis auf ein Kinderkarussell gab es beim Freimarkt von 1939 nur noch Verkaufsbuden auf dem Domshof.
Foto: Archiv

Das weiß auch Buchautor König, der als weiteres Kriterium den Vergnügungscharakter ins Spiel bringt. Im heutigen Sinne sei der Freimarkt ohnehin erst Ende des 18. Jahrhunderts entstanden. „Der heute als Volksfest weithin bekannte Bremer Freimarkt besteht im blendfreien Schein historischer Fakten bestenfalls gut zweihundert Jahre“, schreibt der 69-Jährige in seinem Buch. Eine ernüchternde Botschaft, der Vorsprung auf das Oktoberfest würde demnach auf ein gutes Jahrzehnt schrumpfen. Orientiert man sich an der Bremer Zeitung, wäre der Hamburger Dom sogar plötzlich älter als der Freimarkt.

Wobei sich die Frage stellt, seit wann die Freimarkt-Veranstaltungen überhaupt so gewissenhaft nummeriert werden. Bei einem Blick in alte Zeitungsausgaben fällt auf: Die ebenso penible wie pedantische Zählung war keineswegs schon immer üblich. Offenbar setzte sie erst in den Nachkriegsjahren ein. Eine frühe Spur findet sich im WESER-KURIER vom 19. Oktober 1959: Damals verkündete eine Balkenüberschrift, der 924. Bremer Freimarkt habe begonnen.

Ein Schelm, wer Böses dabei denkt – soll die akribische Zählung vielleicht eine langlebige, ungebrochene Tradition suggerieren? Handelt es sich im Grunde um einen PR-Trick, um den Freimarkt älter zu machen als er wirklich ist? Oder ist es schon ganz in Ordnung, 1035 als Auftaktjahr zu deklarieren und ein Beharren auf 1382 „übergenau“, wie der Historiker Hartmut Müller meint?

Zumindest in den 1930er-Jahren sah man die Sache mit ganz anderen Augen. Kein Mensch kam 1935 auf die Idee, das 900-jährige Bestehen des Freimarkts zu feiern.

Wer den Freimarkt eröffnet

Nicht eindeutig festgelegt ist, wem die Ehre der Freimarktseröffnung durch den traditionellen Fassanstich zukommt. „Im Prinzip ist das immer die Aufgabe des zuständigen Fachsenators“, sagt Christian Dohle, Sprecher der Senatskanzlei. Lange Zeit sei der Innensenator zuständig gewesen und jetzt eben das Wirtschaftsressort. „Es ist eher die Ausnahme, dass auch mal ein Bürgermeister dran war.“

Ein Blick auf vorangegangene Eröffnungen zeigt aber, dass der Fassanstich eine gewisse Anziehungskraft auf amtierende Bürgermeister ausüben konnte. 2018 und 2017 nahm das damalige Stadtoberhaupt Carsten Sieling die Eröffnung vor, auch sein Vorgänger Klaus Wedemeier ließ sich beim Fassanstich ablichten.

Anders wieder vor 50 Jahren, als Bürgermeister Hans Koschnick seinem Arbeitssenator Karl-Heinz Jantzen den Vortritt ließ. Ähnlich verlief die Eröffnung in diesem Jahr, Andreas Bovenschulte hielt sich zurück. An seiner statt stach Wirtschaftssenatorin Kristina Vogt im Almhütten-Biergarten ein Bierfass an und erklärte damit den Freimarkt für eröffnet. 

Johann-Günther König: Der Bremer Freimarkt. Die Schausteller und ihr Publikum, Kellner Verlag, Bremen. 128 Seiten, 9,90 €.

Ob mit oder ohne korrekte Zählweise: Mächtig Spaß hatten diese Kinder beim Freimarkt 1969 auf dem Schaukel-Karussell.  
Foto: Georg Schmidt

Jung, aber mit viel Geschichte

50 Jahre
Universität Bremen

50 Jahre sind seit der Gründung der Universität Bremen vergangen. Auf dem Weg von der vermeintlichen roten Kaderschmiede zur Exzellenzuniversität ist viel passiert: Wir haben den ersten sowie den aktuellen Rektor interviewt und mit Absolventen gesprochen – zu denen auch Bürgermeister Andreas Bovenschulte gehört. Zudem hat uns ein Architekt über den Campus begleitet. Das Magazin der Reihe WK | Geschichte gibt es ab 18. September in den ­Kundenzentren des WESER-­KURIER, im Buch- und Zeitschriftenhandel, online unter www.weser-kurier.de/shop und unter 0421 / 36 71 66 16.

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