Zum Tod des Historikers und früheren FDP-Bürgerschaftsabgeordneten Karl Holl (1931 bis 2017)
Nur allzu gut steht mir noch eine Szene aus meinen Studententagen vor Augen. Es muss Mitte der 1990er Jahre gewesen sein, ich studierte damals Geschichte an der Universität Bremen. Mein Interesse galt vor allem der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, von einem Seminar über den italienischen Revolutionär Guiseppe Mazzini erhoffte ich mir neue Erkenntnisse über die „jungen Wilden“ des Vormärz. Doch zu meiner Enttäuschung platzte der Kurs, als Grund nannte die Veranstalterin zu wenig Teilnehmer. Sprach es, packte ihre Sachen und verschwand auf Nimmerwiedersehen. Zurück blieben ein Dutzend erstaunte Studierende.
Erstaunt, ja geradezu entgeistert war auch Professor Karl Holl, als ihm die Sache zu Ohren kam. Mit ernster Miene stand er am Pult und konnte nicht fassen, was sich seine Kollegin da herausgenommen hatte. „Das geht natürlich nicht“, sagte er. Und ergänzte kopfschüttelnd: „Auch als Hochschullehrer hat man seine Verpflichtungen. Ich habe Seminare auch schon mit nur drei Teilnehmern veranstaltet.“
Im Nachhinein erscheint mir seine Reaktion fast als symptomatisch für sein ganzes Wesen. Für seine aufrechte Haltung, für seinen Drang nach Pflichterfüllung. Nicht zuletzt auch für seine Begeisterung für sein Fach und dessen Vermittlung völlig unabhängig davon, wie groß die Teilnehmerzahl gerade war.
Noch in preußischer Provinz geboren
Mag sein, dass diese geradezu preußische Selbstdisziplin mit seiner Herkunft zu tun hatte. Erblickte er doch das Licht der Welt am 22. Juni 1931 in Altendiez, einer kleinen Gemeinde der seit 1866 preußischen Provinz Hessen-Nassau, heute Rheinland-Pfalz, aus der auch der frühere DFB-Präsident Theo Zwanziger stammt.
Wie seinen Vater, einen Volksschullehrer, drängte es ihn ins pädagogische Fach. Nach seinem Abitur 1950 in Bad Ems studierte Holl Geschichte, Germanistik und Romanistik in Mainz und Tübingen und unterrichtete danach zunächst als Gymnasiallehrer in Mainz. Aber nicht allzu lange, schon bald wechselte er in die Lehrerausbildung, zuletzt an der Erziehungswissenschaftlichen Hochschule in Koblenz.
Doch sein Herz gehörte der Wissenschaft. 1971 ging Holl als einer der Gründungsprofessoren an die neue Universität Bremen. Nicht nur geografisch ein mächtiger Sprung, auch mit Blick auf die Mentalität – von einer eher geruhsamen Ausbildungsstätte zur ambitionierten Reformuniversität, die noch viele Jahre als „linke Kaderschmiede“ verrufen war. Ein gewagter Schritt, immerhin war Holl ein bekennender Liberaler, nicht nur als zwischenzeitlicher Bundesvorsitzender der FDP-Nachwuchsorganisation, sondern auch als Mitglied des Mainzer Stadtrats und stellvertretender Landeschef der rheinland-pfälzischen FDP.
Einigermaßen absurd darum, dass ausgerechnet die Bremer FDP gegen seine Berufung wetterte. Der Vorwurf an die Adresse der SPD: Holl sei eigentlich nur ein „Alibi-Professor“, um den Anschein von Meinungsvielfalt zu erwecken.
Sein Steckenpferd: die Geschichte des deutschen Pazifismus
Doch die Wogen glätteten sich, unbeeindruckt von solchen Anfeindungen widmete sich Holl seinen vorrangigen Forschungsinteressen als Lehrstuhlinhaber für neuere und neueste Geschichte: der Zeit des Vormärz, dem Kaiserreich und der Weimarer Republik. Dabei entdeckte er die lange verschüttete Geschichte des deutschen Pazifismus als sein besonderes Steckenpferd, nicht zu Unrecht galt er als „Nestor der deutschen historischen Friedensforschung“. Der Lohn für seine unermüdliche Arbeit: die Auszeichnung mit dem Carl-von-Ossietzky-Preis der Stadt Oldenburg für sein Buch „Pazifismus in Deutschland“ (1988).
Nebenbei engagierte sich Holl als Vertreter des progressiven Flügels in der Bremer FDP, der Höhepunkt seiner Parteikarriere war seine Wahl in die Bürgerschaft 1979. Doch seine Zeit als Abgeordneter währte nicht allzu lange, bereits 1982 legte er sein Mandat aus Protest gegen den Koalitionsbruch der Bundespartei nieder. Politisch sei der Bruch mit der SPD notwendig gewesen, erinnert sich sein Wegbegleiter, der frühere FDP-Wirtschaftssenator Claus Jäger. „Aber die Art und Weise war nicht in Ordnung, Holl stand da in einer Linie mit Hildegard Hamm-Brücher.“
Zwei Jahrzehnte später kehrte der Historiker auch der Partei den Rücken. Anlass waren die unsäglichen Antisemitimus-Äußerungen des streitbaren FDP-Vizes Jürgen Möllemann im Frühjahr und Sommer 2002. Doch mit dem liberalen Geist brach Holl nicht, nach Angabe seines Sohnes, des FAZ-Journalisten Thomas Holl, hielt der Historiker an seiner Mitgliedschaft in der Friedrich-Naumann-Stiftung wie auch anderen parteinahen Organisationen fest. „Holl ist immer ein Gesinnungsliberaler geblieben“, betont denn auch sein früherer Parteifreund Jäger.
Die Quidde-Biografie als opus magnum
Nach dem jähen Ende seiner Parlamentslaufbahn kehrte Holl an die Universität zurück, noch bis 1996 brachte er die deutsche Geschichte ganzen Studenten-Generationen nahe. Auch nach seiner Emeritierung ließ sein Forschungseifer nicht nach. Im Gegenteil, sein opus magnum, die umfangreiche Biografie des Bremer Friedensnobelpreisträgers Ludwig Quidde, erschien erst 2007.
Seine letzte wissenschaftliche Arbeit, ein Aufsatz über die kampflose Kapitulation einer schwer bewaffneten deutschen Einheit im August 1944 in Beaugency an der Loire, kam noch im Januar dieses Jahres in dem mit seinem früheren Kollegen Hans Kloft herausgegebenen Sammelband „Elbe, Rhein und Delaware. Flüsse und Flussübergänge als Orte historischer Erinnerung“ heraus. „Eigentlich wollte er auch Hans Koschnick für die Mitarbeit gewinnen, es ging ihm um dessen EU-Tätigkeit in Mostar“, berichtet Thomas Holl. Ein naheliegender Ansatz, bis heute spielt die Zerstörung der Brücke über die Neretva im jugoslawischen Bürgerkrieg eine gewichtige Rolle im kollektiven Gedächtnis.
Doch dazu kam es nicht mehr, Koschnick war damals schon zu krank. Ähnlich wie auch Holl selbst, der schon seit längerem mit einem schweren Herzleiden zu kämpfen hatte. Nun ist er am Sonntagabend, 23. April, im Alter von 85 Jahren in seiner Wahlheimat Bremen gestorben.
von Frank Hethey