Vor 50 Jahren

Wieder einmal stand gestern Cinema-Geschäftsführer Gerhard Settje (39) als Angeklagter vor der Kleinen Strafkammer III. Betreut von seinen beiden Anwälten Heinrich Hannover und Hero Burmeister erwies sich gestern der sonst so diskussionsfreudige Settje als großer Schweiger. Auf den Rat der Verteidigung hin verweigerte er dem Richtergremium nicht nur die Aussagen zur Sache, sondern auch die Angaben zur Person. Mit dieser Taktik nahm er dem Psychiater Professor Dr. Wieser jede Möglichkeit, ihn während der Beweisaufnahme psychiatrisch zu begutachten und damit dem Gericht Auskunft über seine Schuldfähigkeit zu geben. (WESER-KURIER, 8./9. Mai 1971)

Hintergrund

Klein beigeben war nicht die Sache des Gerd Settje. Der Betreiber des Programmkinos Cinema im Ostertor hatte im März 1970 acht Fotos und Texte in seinem Schaukasten platziert – als „Informationsmaterial“ zu Kurzfilmen des österreichischen Aktionskünstlers Otto Muehl, wie er sagte. Die Behörden sahen das allerdings anders, von ekelerregenden und obszönen Darstellungen war die Rede. Den fälligen Strafbefehl über 500 Mark wegen Verbreitung unzüchtiger Schriften wollte Settje nicht zahlen, er ließ es auf einen Prozess ankommen. Zwar wurde die Strafe im Juni 1970 auf 300 Mark reduziert, doch auch dagegen wehrte sich der streitbare Kinobetreiber und legte Berufung ein. Im November 1970 begann die Verhandlung vor der Kleinen Strafkammer III.

Ein streitbarer Zeitgenosse: Cinema-Betreiber Gerd Settje in den 1970er-Jahren. 
Quelle: Olaf Dinné

Die nächste Eskalationsstufe: Die Schuldfähigkeit des widerborstigen Cineasten wurde in Frage gestellt, sein Geisteszustand sollte untersucht werden. Dem guten Rat seiner Verteidiger folgend, hielt Settje bis zum Verfahrensende den Mund, noch nicht einmal ein Schlusswort kam über seine Lippen. Doch die Strategie seiner Anwälte Heinrich Hannover, schon damals ein bekannter Strafverteidiger und Kinderbuchautor, und Hero Burmeister, Mitbegründer des Cinema, schien nicht aufzugehen. Das Gericht unter Vorsitz von Karl-Henry Lendroth bestätigte die Strafe. Der Kammervorsitzende bescheinigte Settje auch noch eine „asoziale Einstellung, Geltungssucht und ein übersteigertes Sendungsbewusstsein“.

Doch Settje wäre nicht Settje gewesen, wenn er nicht abermals Revision eingelegt hätte, diesmal beim Hanseatischen Oberlandesgericht. Und siehe da: Wegen Verfahrensfehler wurde das Urteil gegen den Kinobetreiber im September 1971 aufgehoben. Anderthalb Jahre später kreuzten Settje und Lendroth erneut die Klingen, nunmehr bei einer Beratung zu einem Verfahren vor der Jugendkammer des Landgerichts: Settje agierte als Schöffe, Lendroth als Beisitzer. Bei dieser Gelegenheit ließ Lendroth den Jugendschöffen im April 1973 wissen, er habe „den Verstand im Arsch“. Was ihm eine Beleidigungsklage von Settje einbrachte.

Als Mitbetreiber des Jazz-Lokals „Lila Eule“ machte der gelernte Bäcker und Grafiker schon Mitte der 1960er-Jahre von sich reden, im November 1969 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern des Cinema als erstem Programmkino in Deutschland.

Dass dabei auch Kurzfilme von Muehl zu sehen waren, versteht sich fast von selbst. Der exzentrische Österreicher zeigte sich nach Prozessbeginn solidarisch mit Settje und reiste im Dezember 1970 nach Bremen. Bei einem „Materialhappening“ in der Pädagogischen Hochschule wollte er einen Hammel öffentlich schlachten lassen. Der Schafbock entkam allerdings seinem Schicksal – ein Tierfreund befreite ihn, schließlich landete der Hammel im kleinen Privatzoo des Jungenheims Ellener Hof. Irgendwelche Kritik an der Provokationskunst Muehls ließ Settje nicht gelten: Es komme allein darauf an, anhand der Publikumsreaktionen „unbewusste Verhaltensweisen und Existenzzwänge aufzudecken“.

Als Mitglied des aufmüpfigen SPD-Ortsvereins Altstadt bekämpfte er unter anderem mit Olaf Dinné die Pläne für die Mozarttrasse quer durchs Viertel. Settje starb im Alter von 81 Jahren im Mai 2012, seine Kinder Thomas und Andrea Settje leiten heute das Cinema.

Wer zuletzt lacht, lacht am besten: Gerd Settje gewann 1971 seinen Berufungsprozess.
Quelle: Olaf Dinné

Von Anbiet bis Zuckerklatsche

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