Vor 75 Jahren begann der Kriegsverbrecherprozess – ein Mann mit Bremer Vergangenheit unter den Angeklagten
So etwas hatte es in der Weltgeschichte noch nicht gegeben: ein internationaler Prozess gegen die politische und militärische Führungsspitze eines Staates, der einen verheerenden Weltkrieg mit mehr als 60 Millionen Toten vom Zaun gebrochen hatte. Was vor 75 Jahren, am 20. November 1945, im Nürnberger Justizpalast begann, war ohne Beispiel in der Rechtsgeschichte. Zwar hatte es nach dem Ersten Weltkrieg schon einmal den Versuch gegeben, deutsche Kriegsverbrecher vor einem alliierten Gerichtshof zur Rechenschaft zu ziehen. Doch es war beim Versuch geblieben, weil Deutschland die Beschuldigten nicht ausliefern wollte, unter ihnen der Bremer Ehrenbürger Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg.
Anders diesmal, die 24 Angeklagten waren längst in Gewahrsam der vier alliierten Siegermächte Großbritannien, Frankreich, Russland und USA. Der prominenteste war Reichsmarschall Hermann Göring, weit oben in der NS-Nomenklatura standen auch Rüstungsminister Albert Speer und Rudolf Heß als Stellvertreter Adolf Hitlers. Nur noch Insidern dürfte dagegen der Journalist Hans Fritzsche bekannt sein, ein Mitarbeiter des Propagandaministeriums. Vier Anklagepunkte standen zur Verhandlung: die Verschwörung zur Begehung von Verbrechen gegen den Frieden, die Planung und Führung eines Angriffskriegs, Kriegsverbrechen an feindlichen Truppen und der Zivilbevölkerung der besetzten Gebiete sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Sonderseite zum Prozessauftakt
Den Auftakt der Nürnberger Prozesse begleitete der damals nur zweimal wöchentlich erscheinende WESER-KURIER am 24. November 1945 mit einer Sonderseite. „Das Weltgericht in Nürnberg“ lautete die Überschrift. „Durch nichts wird Deutschlands völliger politischer und moralischer Zusammenbruch eindringlicher dokumentiert, als durch den Nürnberger Prozeß“, kommentierte Felix von Eckardt als Leiter des politischen Ressorts das Geschehen. Nach unsagbaren Leiden und Opfern sei dem deutschen Volk nicht einmal die Freiheit geblieben, mit den gestürzten Urhebern seines Unglücks abzurechnen. „Es ist dieser Freiheit verlustig gegangen, weil es die Kraft nicht aufbrachte, sich seiner Peiniger und Verbrecher selbst zu entledigen.“
Auf der Anklagebank saß auch ein Mann mit Bremer Vergangenheit: Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, wegen seiner eilfertigen Unterwürfigkeit im Volksmund gern als „Lakeitel“ verspottet. Als ehemaliger Chef des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) musste sich der 63-Jährige in allen vier Anklagepunkten verantworten. Genau ein Jahr lang, von Oktober 1934 bis Oktober 1935, hatte der damalige Generalmajor als ranghöchster Soldat in der Hansestadt verbracht (hier mehr zu Keitel in Bremen). Seine Aufgabe: der Aufbau einer neuen Division in der Phase der Wiederaufrüstung. Zusammen mit seiner Frau Lisa wohnte er in der Dienstvilla der Wehrmacht an der Horner Heerstraße 23.
Von Bremen war Keitel geradezu begeistert. Gern wäre er geblieben, heftig sträubte er sich gegen seine Versetzung ins Reichskriegsministerium. Er habe sich „noch nie so glücklich als Soldat gefühlt, wie als Divisionskommandeur in Bremen“, berichtete er in seinen Erinnerungen. Einsichtig ist Keitel nicht gewesen, zu seiner persönlichen Verantwortung hat er sich nie bekannt. Wohl aber in seinem Schlusswort im Nürnberger Prozess eingestanden, dass auch soldatische Pflichterfüllung eine Grenze habe. Sein letzter Wunsch nach einem „ehrenvollen Soldatentod“ durch die Kugel wurde nicht erfüllt. Wilhelm Keitel starb am 16. Oktober 1946 durch den Strang.
Weithin vergessen ist heute, dass es in Nürnberg bis April 1949 auch noch zwölf Nachfolgeprozesse gab. Angesichts des Kalten Kriegs aber nicht mehr vor einem internationalen, sondern nur noch von einem amerikanischen Tribunal. Angeklagt waren 185 Beschuldigte: Ärzte und Juristen, Militärs, Politiker, Industrielle sowie hochrangige Polizisten und SS-Mitglieder. Unter den 24 Angeklagten des „Einsatzgruppen-Prozesses“ von September 1947 bis April 1948 befand sich abermals ein Mann, der an der Weser nur allzu bekannt war: SS-Brigadeführer und Polizei-Generalmajor Erwin Schulz, Chef der Bremer Gestapo von 1933 bis 1939.
Seinen Fall hat unlängst Hans Wrobel im Bremischen Jahrbuch untersucht. Das Merkwürdige: Ein politisch Verfolgter, Bürgermeister Wilhelm Kaisen (SPD), setzte sich persönlich für die Begnadigung des verurteilten Kriegsverbrechers ein. In Nürnberg war Schulz wegen der Tötung von rund 100 Menschen hinter den Frontlinien im Osten zu einer Haftstrafe von 20 Jahren verurteilt worden, die er in der Festung Landsberg verbüßte – im selben Gefängnis wie einst Adolf Hitler.
Gleichwohl ließ der Senat auf Schulz nichts kommen. Bereits bei der Gerichtsverhandlung hatte sich der frühere SPD-Reichstagsabgeordnete Alfred Faust für Schulz stark gemacht, später unterstützten ihn die Senatoren Emil Theil und Adolf Ehlers (beide SPD), das Gnadengesuch vom November 1952 stammte aus der Feder von Senator Theodor Spitta (FDP). Über ihre Beweggründe gibt es keine letzten Antworten, Wrobel schließt nicht aus, dass die Legende vom letztlich doch irgendwie ritterlichen und menschlichen Gestapomann ihren Ursprung in geschickter Manipulation haben könnte. Das Ende vom Lied: Auf Betreiben des Senats wurde Schulz im Januar 1954 vorzeitig entlassen.
Die Stimmung in Deutschland war damals längst gekippt. Parteiübergreifend wurde die Freilassung der Inhaftierten gefordert, die unausgesetzte Vollstreckung zahlreicher Todesurteile in Landsberg stieß auf immer schärferen Protest. Die letzten sieben Hinrichtungen fanden im Juni 1951 statt, sieben Jahre später kamen die verbliebenen elf Delinquenten auf freien Fuß. Bei den Hauptkriegsverbrechern gab es keine Gnade: Speer musste seine 20-jährige Haftstrafe bis zum letzten Tag absitzen, Heß beendete seine lebenslängliche Haft 1987 durch Suizid.