Zur Migrationsdebatte (1): Ein Blick zurück in die eigene Vergangenheit am Beispiel der Familie Eitmann aus Arbergen
Migration wird eines der bestimmenden Themen in der Zukunft sein. Millionen Menschen werden nach Deutschland kommen. Bei uns jedoch wurde lange ignoriert, dass Deutschland auch früher schon in vielfältiger Weise involviert war in ein globales Migrationsgeschehen, das sich in dem einprägsamen Motto zusammenfassen lässt: Deutschland, vom Auswanderer- zum Einwandererland.
Auch Bremen spielte eine große Rolle im Auswanderungswesen, von Bremerhaven sind über sieben Millionen Menschen in die Neue Welt aufgebrochen. Einige kamen aus Bremen und Umgebung, wie die Eitmanns aus Arbergen. Warum gingen sie und wie erging es ihnen in Amerika? Vielleicht hilft ein Blick in die Geschichte, Erkenntnisse zu gewinnen, die auch für die Debatte heute wichtig sein können.
Eine alte Aufnahme zeigt die Hofstelle Nr. 10 der Familie Eitmann in Arbergen, heute ein Stadtteil von Bremen. Früher war Arbergen ein Dorf, das vom Gohgericht [1] Achim verwaltet wurde, dann zum Königreich Hannover und später zu Preußen gehörte. Das Sozialgefüge weist zwölf Bauleute, mehrere Brinksitzer, Köthner und sonstige Nebenstellen auf.
Einer der Bauleute ist Johann Eitmann, sein Hof ist seit 1570 nachgewiesen. Die Bauleute waren die wirtschaftliche und gesellschaftliche Elite im Dorf, sie hatten oft ein Dutzend Pferde, ein Zeichen für besonderen Wohlstand, und größere Ländereien. Zunächst bestimmte Ackerbau das wirtschaftliche Leben im Dorf. Zum Ende des 19. Jahrhunderts aber, so vermerkt die Dorfchronik, betrieben die Bauleute mehr Viehzucht. Die ganze Marsch sei nur noch Weide- und Grasland. Statt der Pferde früher würden jetzt viel mehr Rinder, Milch- und Jungvieh gehalten. Die Chronik resümiert: „Durch den Übergang vom Getreidebau zur Viehzucht hat sich der Wohlstand der Bauleute bedeutend gehoben.“ [2]
Neuer Wohlstand – und trotzdem Probleme
Für den neuen Wohlstand in Arbergen spricht auch die Tatsache, dass die Eitmanns 1877 neben dem Strohdachhaus ein neues Wohnhaus bauen ließen. Erstaunlich ist deshalb, dass sich gerade zu diesem Zeitpunkt um 1900 etliche Mitglieder der Familie Eitmann auf den Weg nach Amerika machten. Warum sind so viele Eitmanns ausgewandert und wie erging es ihnen in Amerika?
Ein altes Familienfoto zeigt die neunte Generation der Familie Eitmann mit Hermann und Anna Eitmann (links) und (von links) Frieda Buhr, die 1897 geboren wurde, Hermann-Dietrich, Fritz, Albert und „Didi“ = Dietrich. [3]
Komisch ist, dass nicht alle Kinder der Familie auf dem Bild sind, es fehlen die älteren Dorothea, Heinrich Georg, Johann Diedrich und Georg. Hermann-Dietrich (im Bild neben der Mutter) sollte der Hoferbe werden, ist allerdings im Ersten Weltkrieg 1917 in Frankreich gefallen. Die anderen vier Brüder auf dem Bild sind in die USA ausgewandert, ebenso wie Johann Diedrich (= Johann oder John, der war schon seit 1897 in New York und ist deshalb nicht auf dem Bild) und Georg. Von elf Kindern sind also fünf mit unterschiedlichen Perspektiven in den USA gelandet, zwei sind gestorben und zwei gefallen. Dorothea setzte die Söhne ihrer Schwester Frieda als Hoferben ein.
Wenn also nicht unmittelbare Not, drohender sozialer Abstieg oder mangelnde Zukunftsaussichten sowie die Sehnsucht nach religiöser und politischer Freiheit und Unabhängigkeit als Auswanderungsmotive wirken, dann kommt vor allem das Erbrecht in Frage.
Ungewöhnlich ist im Falle der Familie Eitmann, dass nicht der Erstgeborene als Hoferbe eingesetzt ist (das sog. Anerbenrecht war eine in Norddeutschland weit verbreitete Form des Erbrechts) sondern Hermann-Dietrich als fünftgeborenes Kind. Das scheint deshalb möglich gewesen zu sein, weil sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts das bis dahin vorherrschende Meierrecht auflöste. Durch eine Ablöseverordnung wurde es nun für die Bauern möglich, sich vom Meierrecht freizukaufen und wirkliche Eigentümer ihrer Höfe zu werden. Vorher waren die Bauern „Meier“, d.h. sie erhielten das Land vom Grundherren gegen Abgaben und Dienstleistungen geliehen, sie waren keine Besitzer von Erbland.
Jetzt aber konnte man Land verkaufen, es beleihen und offensichtlich auch die Erbfolge frei festlegen. Die Eitmann-Söhne, die den Hof nicht erbten, mussten eine Möglichkeit finden, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, in einen anderen Hof einheiraten, sich als Knecht verdingen, in den entstehenden Fabriken in Hemelingen und Bremen arbeiten oder eben ihre Chancen in Amerika suchen. „Knecht“ und „Fabrikarbeiter“ bedeutete sicher einen sozialen und wirtschaftlichen Status-Verlust, in Amerika, so glaubte man, könne es jeder zu etwas bringen. „Auswanderung“ war im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg gerade in Bremen und Umgebung ein die Öffentlichkeit beherrschendes Thema.
Ins „gelobte Land“?
Der erste, der nach Amerika ging, war Johann Eitmann, am 24. Juni. 1897 kam er mit dem Dampfer des Norddeutschen Lloyd in New York an.
Ein wichtige Quelle sind Passagierlisten, die der Kapitän den Einwandererbehörden in New York übergeben musste. Die Einwanderungsbeamten auf Ellis Island, der zentralen Einwandererstation vor New York, überprüften und ergänzten bzw. korrigierten sie dann – falls erfordrlich. Johann gab an, dass er keinen Beruf habe (was bemerkenswert ist, da er ja von einem Bauernhof kommt), dass er lesen und schreiben kann, zuletzt in Arbergen wohnte, dass er in New York bleiben wolle, für sein Ticket selber bezahlt und Verwandte in New York habe (was nicht stimmt), dass er 60 Dollar vorweisen könne und unter kein Ausschlusskriterium für die Einwanderung falle.
Er amerikanisiert seinen Namen schnell (John), wohnt in der Audubon Ave, gibt seinen Beruf mit „grocer“ an bzw. mit „Grocery own store“ (also Lebensmittelladen, Kolonialwarenladen, Krämer) und spricht Englisch. [4] Im Zensus für 1910 taucht als „brother“ bereits Fred auf mit dem Beruf „salesman of groceries“, während John als „head of family“ geführt wird. Auch Fred kann Englisch. Die Audubon Ave ist in Washington Heights an der Nordspitze Manhattans.
1911 erklärt John seine Absicht, Bürger der USA zu werden. Er ist nun 30 Jahre alt, als er einwanderte, war er erst 16. Dieses junge Alter ist für Auswanderer nichts ungewöhnliches, Fred war sogar noch ein Jahr jünger, Diedrich ebenfalls 16. In dieser Declaration of Intention muss John beeiden, dass er alle Loyalitäten zu seinem bisherigen Potentaten, dem deutschen Kaiser Wilhelm II., widerruft („to renounce forever all allegiance and fidelity to any foreign prince, potentate, state, or sovereignty, particularly to William II, German Emperor, of which I am now a subject“). Er sei weder ein Anarchist noch ein Polygamist und es sei seine Absicht, „in good faith to become a citizen of the United States of America“. Angeschlossen ist der Antrag auf Einbürgerung (Petition for Naturalization).
Im Ersten Weltkrieg wurden nach Kriegseintritt der USA drei Registrierungen von Wehrpflichtigen durchgeführt, die erste für Männer zwischen 21 und 31 (5. Juni 1917), die zweite für Männer, die nach der ersten Registrierung 21 geworden sind und die dritte für Männer von 18 bis 45 (ab Sep. 1918). Gleich am 17. September wurde auch John Eitmann registriert. Irgendetwas ist mit der Einbürgerung schief gelaufen (oder wollte er einer möglichen Einberufen entgehen?), denn in der Kategorie, welcher Nation man angehöre (falls man nicht Bürger der USA sei), lässt er eintragen: Germany, Hanover. Als Berufsbezeichnung gibt er nun „Retail Tea and Coffee Salesman“ bei der Firma G.B.Schorn (Adresse: Jamaica, Long Island, NY) an, sein nächster Verwandter sei der Bruder Fred/Fritz, der noch in dem Geschäft in der Audubon Ave zu finden sei.
Auch im Zweiten Weltkrieg wurde John im Rahmen der Allgemeinen Wehrpflicht registriert, im Jahre 1942, da war er schon 61 Jahre alt. Nun ist sein Arbeitgeber Irving Trust Co.[5] in der 42 Str. in NY. War John nun im Finanzgeschäft tätig?
Vom Scheitern und vom Erfolg
Eine interessante Geschichte sind die Auswanderungsversuche von Georg Eitmann. Hier geht die Familiengeschichte so, dass er 1905 seinen Brüdern in die USA folgen wollte, aber nicht in die USA hereingelassen wurde, er wurde zurückgeschickt und verdingte sich in Arbergen als Knecht, wo er 1937 starb, ohne verheiratet gewesen zu sein.
Sein Schicksal irritiert, denn eigentlich ist er ein Modell-Einwanderer. Laut Passagierliste („List or Manifest of Alien [6] Passengers for the U.S. Immigration Officer at Port of Arrival“, so der offizielle Titel des Dokuments) erreicht er von Bremen mit der S.S. „Neckar“ kommend am 31. August 1905 New York, jedoch gibt er an, dass er vier Jahre vorher schon bei seinem Bruder Johann, der damals in der 8th Avenue in New York lebte, gewesen war.
Sein Beruf sei „farmer“, er hatte 60 Dollar dabei, war kein Anarchist oder Polygamist und besonders in den Rubriken „Condition of Health, Mental and Physical“ steht „good“ und unter der Kategorie „Deformed or Crippled“ steht „No“. Bei den Kontrollen in Ellis Island waren das die wichtigsten Kriterien, warum man nicht in die USA einwandern durfte (zusätzlich war es verboten, einen Arbeitsvertrag zu haben oder Chinese zu sein). Die Hürde, die möglicherweise zu hoch für Georg war, war der „literacy test“. Hier musste man seine intellektuellen Fähigkeiten demonstrieren, z.B. ein Karo malen oder das Puzzle eines menschlichen Kopfes korrekt zusammenfügen.
Zu dieser Erklärung, warum Georg wieder zurückgeschickt wurde, würde auch passen, dass man ihn in der Familie als „mall“ (norddeutsch für „verrückt“, „von Sinnen“) einstufte. Auf dem Grabstein der Familie Eitmann auf dem Friedhof in Arbergen jedenfalls ist Georg als am 1. April 1937 verstorben verzeichnet.
Auffällig in der erwähnten Passagierliste ist auch, dass Georg nicht allein reiste. Sein junger Bruder Fritz war dabei. Möglicherweise versuchte Georg nun ein zweites Mal, in die USA einzuwandern. Und auf dieser zweiten Reise nahm er Fritz mit. Georg war 23, Fritz 15 Jahre alt. Georg hatte Erfahrung mit der Reise, wusste in Bremen, auf der Überfahrt und vielleicht auch ein bisschen in Ellis Island Bescheid. Er konnte sich wohl um den Bruder kümmern.
Fritz nun wieder taucht 1911 in einer weiteren Passagierliste auf. Mit der „Friedrich der Große“ war er am 15. Juli in New York eingelaufen. Und er hatte seinen Kumpel Hermann Bischoff aus Arbergen dabei. Die Abreise Freds mit der „Wilhelm der Große“ am 25. April 1911 war der lokalen Zeitung, dem Brooklyn Daily Eagle, eine Notiz wert, Fred Eitmann und Hermann Bischoff Vater und Sohn werden als Passagiere benannt.
Mindestens einmal in die alte Heimat
Ein an Bord aufgenommenes Foto befindet sich als Postkarte im Fotoalbum der Familie Buhr. Fritz schrieb sie am 2. Okt. 1911. Unter den jungen Mann am linken Bildrand mit dem verwegenen Hut vermerkte er seinen eigenen Namen. Ist er das auf der Überfahrt mit der „Kaiser Wilhelm der Grosse“?
Fritz war also mindestens einmal in den letzten sechs Jahre in die alte Heimat gefahren. Auch die Bischoffs waren Bauleute im Dorf Arbergen gewesen und hielten den Kontakt zu Fred wohl auch in Brooklyn. Netzwerke spielten jedenfalls für alle Auswanderer eine große Rolle. Man wollte wissen, wann man sich am besten aufmachte, brauchte Tipps für die Überfahrt, Hinweise auf Gefahren und Betrügereien, wie man in Amerika eine Wohnung bekommen könnte, wie Arbeit, wie es sich dort leben ließe usw.
Fritz jedenfalls hat hier schon seinen Namen in Fred amerikanisiert und bezeichnet sich als „clerk“ (wohl kaufmännischer Angestellter meinend). Nachdem er eine Weile bei seinem Bruder John gewohnt hatte, führt ihn seine „registration card“ vom Juni 1917 unter St. Nicholas Avenue in Harlem auf, später taucht er dann im Adressbuch von Yonkers 1930 ff. auf. Er ist also aus New York City in den südlich angrenzenden Speckgürtel gezogen, wohl ein sozialer Aufstieg.
Während der Wehrerfassung für den Zweiten Weltkrieg, da ist Fred 52 Jahre alt, lebt in der Kossuth Ave. in der Bronx und ist mit Cecilia verheiratet. Vorher war er schon einmal mit einer Katharine verheiratet, diese Ehe beantragte er aufzulösen, weil „his wife has absented herself for five successive years“ und da keine Beweise zu finden seien, dass sie tatsächlich noch lebe, wolle er sie für tot erklären lassen. [7]
von Dr. Diethelm Knauf
Der zweite Teil folgt in Kürze
[1] Gohe waren mittelalterliche Gerichts- und Verwaltungseinheiten, die auch für die Besteuerung, Unterhaltung der Deiche und für die Verteidigung eine Rolle spielten. Nach der „Franzosenzeit“ wurden sie nicht wieder eingeführt.
[2] Arbergen. Schul- und Dorfchronik von 1877 bis zum Ende des 2. Weltkrieges, herausgegeben von Klaus Buhr anlässlich des 100. Geburtstages des Schulhauses in Arbergen, 4. Mai 2011, S. 45
[3] Das Photo wurde übrigens bei Wilhelm Holtorp im „Osterthorsteinweg 61“ in Bremen, einem professionellen Photostudio, aufgenommen. Dieses war dort seit 1896 ansässig.
[4] All das kann man dem Adressbuch von 1911 und dem Zensus von 1910 entnehmen.
[5] Irving Trust war eine Bank in New York, die von 1851 bis 1988 in Betrieb war. Sie versorgte vor allem kleinere und mittlere Unternehmen mit Kapital. Bis 1931 saß die Bank im Woolworth Building.
[6] Als „alien“ (fremd, ausländisch) werden in der U.S. Einwanderungs- und Einbürgerungspolitik alle nicht-amerikanischen Staatsbürger bezeichnet.
[7] The Brooklyn Daily Eagle, 18 Oct 1930, Sat, Page 21