Vor 60 Jahren stand der Wiederaufbau des Schütting vor dem Abschluss – und die Börse vor dem Abriss
Der Krieg war noch nicht einmal vorbei, als am ausgebrannten Schütting die ersten Sicherungsmaßnahmen begannen. Ungefähr genauso schwer hatten die Bomben das benachbarte Börsengebäude in Mitleidenschaft gezogen. Doch im Gegensatz zum Schütting rührte sich für das neugotische Bauwerk kein Finger. Als der Wiederaufbau des Schütting vor 60 Jahren vor dem Abschluss stand, schlug für den Börsenbau die letzte Stunde.
Die ersten vier Jahre des Bombenkriegs überstand der Schütting unbeschädigt. Erst ein halbes Jahr vor Kriegsende erwischte es den altehrwürdigen Renaissancebau von 1537 dann doch: Am Abend des 6. Oktober 1944 ging das Gebäude in Flammen auf. Der gesamte Innenbereich wurde zerstört, nur die Außenmauern blieben stehen. Doch damit war das Schicksal des Schütting nicht besiegelt, die Handelskammer wollte sich das Bauwerk nicht nehmen lassen. Schon kurz nach Kriegsende machte sich die Kammer an die Beseitigung der Kriegsschäden. 1948 war das Dach wieder gedeckt, danach folgten Fassadenarbeiten und in zwei Bauabschnitten die Sanierung der Innenräume. Zuerst kam 1951 das Erdgeschoss an die Reihe. Vor 60 Jahren, im Februar 1955, ging es dann im Obergeschoss weiter.
Stiller Abgang der Neuen Börse
Der Wiederaufbau des ausgebrannten Gebäudes scheint von Anfang an eine Selbstverständlichkeit gewesen zu sein. Bereits im November 1944 ließ man das klaffende Loch in der Decke abdichten und die Giebel sichern. Eine klare Willensbekundung – ansonsten wurden einsturzgefährdete Gebäudeteile einfach gesprengt. Von einer „ehrenvollen Aufgabe“ sprach denn auch Architekt Fritz Brandt, als die Handelskammer ihn mit der Wiederherstellung der Innenräume betraute.
Eine rege Bautätigkeit also, die sich da im und am Schütting entfaltete. Das eingerüstete Gebäude als Zeichen ungebrochenen Wiederaufbauwillens.
Doch dieser Eifer war nicht überall zu beobachten.
Kein Finger rührte sich für das alte Börsengebäude auf dem Nachbargrundstück. Als „Neue Börse“ von 1861 bis 1864 am Standort der heutigen Bürgerschaft errichtet, hatte der wuchtige neugotische Prachtbau die „Alte Börse“ auf dem Liebfrauenkirchhof ersetzt. Nun wurde die Ruine im Spätsommer 1955 ohne viel Federlesen abgetragen. Sang- und klanglos verschwand das Börsengebäude von der Bildfläche.
Schütting und Börse als Brandruinen
Dabei wäre der Abriss nicht zwingend erforderlich gewesen. Auf zeitgenössischen Fotos aus den frühen Nachkriegsjahren ist sehr gut zu erkennen, wie es um das Börsengebäude stand. Nach den Bombentreffern im Zweiten Weltkrieg befand es sich in einem ähnlichen Zustand wie der Schütting. Auch die Börse war eine Brandruine: Wie beim Schütting war das Innere ausgebrannt, waren nur die Umfassungsmauern erhalten geblieben.
Der bauliche Zustand allein kann deshalb nicht das einzige Kriterium gewesen, als es um Abriss oder Wiederaufbau der beiden Gebäude ging. Es steckte mehr dahinter als nur eine nüchterne Bestandsaufnahme der Kriegsschäden. Dabei war der Schütting klar im Vorteil. Als schon damals über 400 Jahre altes Zeugnis bremischer Baukunst hatte der Renaissancebau auch kulturhistorisch einen ganz anderen Stellenwert als das Börsengebäude. Der Schütting war und ist ein Bremer Wahrzeichen, das steingewordene Symbol kaufmännischer Tatkraft. Fast eine Million Mark spendeten Bremer Unternehmer für den Wiederaufbau.
Wie anders dagegen die Meinung über die benachbarte Börse. Schon lange herrschte ein breiter Konsens in der geradezu verächtlichen Beurteilung des Börsengebäudes. Als typisches Beispiel historistischer Bauweise hatte es bereits vor den Kriegsbeschädigungen jeglichen Rückhalt verloren. Schon bei den NS-Planspielen für eine Neugestaltung der Innenstadt spielte das Bauwerk keine Rolle mehr, es wäre abgerissen worden. Stehen bleiben sollte nur der Börsenhof A, das halbrunde Nebengebäude. Auch in späteren Planungen war dessen Abriss nie vorgesehen, bis heute vermittelt es als letztes Überbleibsel des Börsenbaus einen guten Eindruck seiner neugotischen Architektur.
Kein Interesse am Fortbestand
An der geringschätzigen Haltung änderte sich auch nach Kriegsende nichts. Im Oktober 1946 geißelte ein Experte den Börsenbau als treffendes Beispiel für „die Öde und Leblosigkeit der empfindungslosen Neugotik“. Sogar die Handelskammer als Eigentümerin der Börse zeigte keinerlei Interesse am Fortbestand. Als Börsenstandort hatte das Gebäude seit 1934 ohnehin ausgedient. Die Kammer konzentrierte sich einzig auf den Schütting. „Es stand überhaupt nicht zur Debatte, das Börsengebäude zu erhalten“, sagt Prof. Eberhard Syring von der Hochschule Bremen.
Diese Mentalität zeigte sich in aller Deutlichkeit, als kurz nach Kriegsende die künftige Gestaltung der Ostseite des Marktplatzes diskutiert wurde. Von der Börse war da mit keinem Wort die Rede. Schlicht und einfach deshalb, weil der Stab über das historistische Bauwerk längst gebrochen war. Man musste nicht noch einmal neu aufwärmen, worüber schon seit vielen Jahren Einigkeit bestand.
Die Hauptakteure taten denn auch so, als würde die Börse gar nicht mehr existieren. Gemeinsam schrieben Handelskammer und Bauverwaltung 1952 einen Ideenwettbewerb aus. Die Vorgabe: Es sollte der Zustand vor dem Bau der Börse wiederhergestellt werden – ein kleinteiliges Erscheinungsbild mit einer Reihe von Giebelhäusern analog zur gegenüberliegenden Westseite. Darauf beriefen sich noch zehn Jahre später die Gegner des geplanten Bürgerschaftsgebäudes. Der überdimensionierte Börsenbau habe den Marktplatz „entstellt“. Dieser Fehler dürfe jetzt nicht wiederholt werden, nur Giebelhäuser könnten die alte Harmonie wiederherstellen.
Kein Wunder also, dass die Kriegsschäden als Chance galten, das ungeliebte Börsengebäude endlich loszuwerden. Praktisch zum gleichen Zeitpunkt, als der Wiederaufbau des Schütting abgeschlossen wurde, schlug die letzte Stunde des neugotischen Börsenbaus. Nach dem Abriss verkaufte die Handelskammer das Grundstück 1956 an die Stadtgemeinde.
Zehn Jahre später wurde am früheren Börsenstandort das Bürgerschaftsgebäude eingeweiht.
von Frank Hethey