Vor 145 Jahren: Französische Geiseln bringen Winter 1870/71 in Bremen zu / Literaturprofessor rechnet mit den Bremern in Erlebnisbericht ab
Was der französische Literaturprofessor Charles Jeannel 1871 über Bremen zu Papier brachte, erfüllte sämtliche Kriterien eines PR-Desasters. Zwar lobte er die Bremer Feuerwehr wie überhaupt die öffentlichen Einrichtungen. Doch an der Bremer Bevölkerung ließ er kein gutes Haar. Nur tagsüber gebe sie sich gesittet, nachts komme es zu wüsten Ausschweifungen – ein klassischer Fall von ausgeprägter Doppelmoral. Fast noch schlimmer: die Bremer Küche.
Von den Bremern hatte Charles Jeannel keine sonderlich gute Meinung. „Man isst, man schläft, man amüsiert sich, man verdient sein Geld ohne besondere Mühe und das ist alles“, lautete das harsche Verdikt des Professors aus Frankreich.
Als unerträglich empfand der Gelehrte die Bremer Mentalität, die gekennzeichnet sei durch eine ausgeprägte Doppelmoral. „Keusch gibt man sich nur bei Tageslicht“, wetterte Jeannel in seinen Aufzeichnungen. Doch in Wahrheit sei Bremen ein Sündenpfuhl, bei Nacht gebe sich die gesamte Bevölkerung wüsten Ausschweifungen hin. Das niedere Volk vergnüge sich in Kellerlokalen, die wohlhabende Klasse in großen Häusern. „Man betrinkt sich hier ‚en familie‘, knutscht Frauen und Mädchen“, empörte sich Jeannel.
Ein höchst überraschendes Bild, das der Professor von Bremen zeichnet. Frohsinn und Vergnügungslust gilt gemeinhin eher als typisches Merkmal des Rheinländers oder ganz allgemein des Süddeutschen. Norddeutsche dagegen müssen mit dem Vorurteil leben, sie seien steif und humorlos, ein verschlossener, mitunter mürrischer Menschenschlag. Und nun das, die altehrwürdige Hansestadt als Lasterhöhle! Auch ansonsten ließ er kaum ein gutes Haar an den Bremern. Nicht an den Frauen, die „ein wenig wie die Enten“ watschelten. Und auch nicht an den Männern: „Ihr Leben ist Nahrungszunahme und ununterbrochene Verdauung.“
Niedergeschrieben hat Jeannel seine Eindrücke vor nunmehr 145 Jahren. Und zwar in einem Wälzer von 334 Seiten, dessen Titel „De Dijon à Brême, 1870-1871“ lautet, zu deutsch: „Von Dijon nach Bremen“.
Schon allein die Jahreszahl sollte stutzig machen, sollte die Frage aufwerfen, ob die wenig schmeichelhaften Eindrücke des Professors für bare Münze zu nehmen sind. Ob seine Schilderungen womöglich getrübt waren durch das politische Geschehen seiner Zeit. Tobte doch während seines Aufenthalts in Bremen der deutsch-französische Krieg von 1870/71. Und war dieser Aufenthalt doch keineswegs freiwillig, sondern ein Zwangsaufenthalt. Jeannel war eine Geisel.
Geiselnahme als Vergeltung
Die Internierung Jeannels und mehrerer Dutzend ziviler Leidensgenossen erfolgte als „Retourkutsche“, als Vergeltungsmaßnahme für die Gefangennahme Bremer Seeleute durch die französische Regierung zu Beginn des deutsch-französischen Krieges im August 1870. Verschärft noch dadurch, dass sich ein Kapitän über die Haftbedingungen und „rohe Behandlung“ beklagte. „Bremen forderte, dagegen etwas zu unternehmen“, schreibt Bremen History-Autor Peter Strotmann in seinem Beitrag über die Geschehnisse.
Doch der Protest des preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck verhallte ungehört. Die Antwort: die Geiselnahme französischer Zivilisten im November 1870. „Aber es sollten nicht irgendwelche sein“, schreibt Strotmann, „sondern bevorzugt Wohlhabende und Unterstützer der derzeitigen französischen Regierung.“
Zu den Betroffenen zählte auch Charles Jeannel, Literaturwissenschaftler an der Universität Dijon in Ostfrankreich. Freilich wäre es verfehlt, sich einen älteren Herrn vorzustellen. Vielmehr war Jeannel damals ein noch vergleichsweise junger Mann. Wie Hartmut Müller, der frühere Leiter des Staatsarchivs Bremen, ermittelt hat, war er zum Zeitpunkt seiner Verhaftung gerade mal 30 Jahre alt – im 19. Jahrhundert kein ungewöhnliches Alter für einen Professor. Der Familienvater hatte zwei Söhne im Alter von vier und sechs Jahren. Doch darauf nahmen die deutschen Besatzer keine Rücksicht, als sie ihn und seine Leidensgenossen in Haft nahmen. Per Eisenbahn ging es über Straßburg, Frankfurt und Hannover nach Bremen, wo die Geiseln mitten in der Vorweihnachtszeit am 15. Dezember 1870 eintrafen.
Positives Urteil über die Stadt und ihre öffentlichen Einrichtungen
Bereits die norddeutsche Tiefebene hinterließ einen durchaus ungünstigen Eindruck bei dem französischen Gelehrten. „Es ist unmöglich, sich ein trostloseres und völlig flaches Land vorzustellen als die Ebene, die sich zwischen Hannover und Bremen erstreckt“, befand Jeannel.
Erstaunlich positiv dagegen sein Urteil über Bremen an sich, damals eine rasch wachsende Stadt von knapp 76.000 Einwohnern. „Alles strahlt Wohlstand, Behaglichkeit und ein gepflegtes und ruhiges Leben aus“, lautete sein Fazit. „Man glaubt, in Holland zu sein.“ Voll des Lobes war Jeannel über die Bremer Krankenhäuser und die öffentlichen Einrichtungen. Ja, er gab sich sogar als Bewunderer des Omnibus- und Feuerwesens zu erkennen. „In dieser Beziehung steht Paris hinter Bremen“, räumte er ein. „Ein Feuer in Bremen ist schon gelöscht, ehe man in Dijon den Tambour geweckt hat.“
Doch so anerkennend er sich auch über das Erscheinungsbild der Stadt und ihre Verwaltung äußern mochte, so vernichtend fiel sein Urteil über die Bremer und ihre Gebräuche aus. Unkultivierte und plumpe Menschen in sämtlichen Schichten, eine frömmelnd-bigotte Geisteshaltung bei heimlicher Lasterhaftigkeit und vor allem nicht der geringste Sinn für die Segnungen gepflegter Esskultur – für einen Franzosen die reinste Blasphemie. „Die Menge der Bevölkerung speist nicht, sie futtert. Selbst bei besseren Leuten findet man diesen vollständigen Mangel an Feinschmeckertum“, entrüstete sich Jeannel. Das Resümee konnte deshalb nur lauten: „Die Bremer Küche ist fluchwürdig.“
Nach zwei Monaten neigte sich der Zwangsaufenthalt dem Ende zu
Immerhin konnte sich Jeannel über schlechte Unterbringung nicht beklagen. Er selbst bewohnte ein Privatquartier in der östlichen Vorstadt, seine Landsleute kamen in Hotels in Bahnhofsnähe unter. Zudem durften sich die Geiseln innerhalb der Stadt frei bewegen, sogar so etwas wie ein Kulturleben entfalten.
Zu seinem Glück musste Jeannel die Bremer Verhältnisse nicht über Gebühr lange ertragen, bereits nach gut zwei Monaten neigte sich der Zwangsaufenthalt dem Ende zu. Zwei Tage vor Abschluss des Vorfriedens von Versailles durfte der Familienvater am 24. Februar 1871 Bremen den Rücken kehren. In seine Heimatstadt begab er sich indessen erst, als die Deutschen Dijon im Oktober 1871 wieder geräumt hatten.
Freilich war das letzte Wort noch nicht gesprochen. Auf Grundlage seiner Tagebuch-Aufzeichnungen veröffentlichte Jeannel noch im gleichen Jahr seine Abrechnung mit den Bremern, dieser „Rasse von mittlerem Wuchs“, der „wenig oder gar keine Grazie“ zu Eigen sei. Einen hämischen Seitenhieb konnte sich Jeannel mit Blick auf die deutsche Kaiserproklamation im Spiegelsaal von Versailles nicht verkneifen. Die Deutschen „würden schon eines Tages sehen, was das kostet und wohin es führen wird“, so seine Prophezeiung. Als guter Patriot tröstete er sich damit, dass Frankreich, das eben erst erneut Republik geworden war, langfristig zu den Siegern der Geschichte zählen werde. „Unsere Revanche beginnt: Wir haben keinen Kaiser mehr, … aber sie haben einen!“
von Frank Hethey