Auswanderung über Bremen: Briefnachlass der Gebrüder Louis und Fritz Schütz illustriert Integration in US-Gesellschaft / Loyalität zur alten Heimat bleibt 

Aus Bremen brach Fritz Schütz am 5. Dezember 1883 nach Amerika auf. Nichts hielt ihn mehr in Deutschland nach Ende seiner fünfjährigen Militärdienstzeit. In New York erwartete ihn bereits sein Bruder Louis, der drei Jahre zuvor den gleichen Weg eingeschlagen hatte. Wie sich die beiden Brüder in der US-Gesellschaft zurechtfanden, beleuchtet ihr umfangreicher Briefnachlass, den der Migrationsexperte und frühere Leiter des Landesfilmarchivs, Dr. Diethelm Knauf, in der neuen Titelstory auswertet. Ein denkwürdiges Zeitdokument in Anbetracht der aktuellen Flüchtlingssituation. 

Nach Ansicht seines Bruders Fritz ein „gemachter Mann“: der ausgewanderte Louis Schütz, hier auf einer Aufnahme aus Newark. Quelle: Privat

Nach Ansicht seines Bruders Fritz ein „gemachter Mann“: der ausgewanderte Louis Schütz, hier auf einer Aufnahme aus Newark.
Quelle: Privat

„Glücklich hier angekommen will ich Euch nun meine Erlebnisse auf der Reise und hier mittheilen. Wie Ihr ja wisst, bin ich am 5. Dezember von Bremen abgefahren, und sind wir am Sonntag den 16. Dezember wohlbehalten in New York angekommen. Wir hatten viel Sturm, und deshalb hat die Reise so lang gedauert. Ich war vier Tage lang tüchtig seekrank, was kein angenehmes Gefühl ist. Bruder Louis und Mister Gerhardt haben mich gleich auf dem Schiff in Empfang genommen. Die Freude  die könnt Ihr Euch denken, als ich ihn kommen sah, und wie er mich erblickte, da war die ganze Seekrankheit und alles trübe vergessen. /…/ Den anderen Tag sind wir wieder nach New York und haben meinen Koffer geholt und haben uns die Stadt angesehen. Aber das ist ein Leben, das kann sich kein Mensch vorstellen, wer es nicht selbst gesehen hat. Da sieht man in einer Minute Hunderte von Menschen und Fuhrwerken, und Alles durcheinander, Schwarze und Weiße.“

Dieser Brief wird am 20. Dezember 1883 in Newark, eine halbe Stunde von New York entfernt, abgeschickt, nach Westerfeld im Kreis Usingen im Taunus. Dort wuchsen die beiden Brüder Louis und Fritz Schütz in einer Bauernfamilie auf. Louis wird 1855 geboren, Fritz ist der jüngste Bruder, wann er geboren wurde, ist unklar. In der Bauernfamilie Johann Friedrich Schütz und Margarethe Elisabeth, die auch eine Leineweberei in Heimarbeit betreibt, leben vier weitere Geschwister, den Hof wird der älteste Bruder Heinrich Peter übernehmen.

Musik wird in der Familie groß geschrieben. Der Vater hat sich das Spielen auf der Basstrompete selbst beigebracht und verdient sich nebenher ein wenig Geld mit dem Aufspielen auf Festen, Kirchweihen und anderen Tanzveranstaltungen. Die beiden Jungen Louis und Fritz interessieren sich schon sehr früh für Musik und lernen die Instrumente Klarinette, Viola und Basstuba spielen, auch dieses weitgehend autodidaktisch.

Louis leistet von September 1875 bis September 1880 seinen fünfjährigen Militärdienst in Mainz-Kastel beim 88. Infanterie Regiment ab und wandert im Dezember 1880 nach Amerika aus, Fritz folgt ihm drei Jahre später, auch hier nach Ableistung des Militärdienstes im 88. Infanterie Regiment. Beim Militär erhielten beide Brüder regulären Musikunterricht, Louis auf der Klarinette, Fritz auf Tuba und Tenorhorn.

Was die beiden Brüder Louis und Fritz so interessant macht, ist ihr Nachlass von 100 bis 120 Originalbriefen, geschrieben bis 1939, danach weitere Briefe ihrer Nachkommen bis ca. 1963, sowie etliche Fotos. In Amerika sicherten sie sich ihren Lebensunterhalt als professionelle Musiker, beide haben es dort „zu etwas gebracht“.

Louis Schütz ist zufrieden mit der Meinungsfreiheit

Folgte seinem Bruder Louis nach drei Jahren in die Vereinigten Staaten: Fritz Schütz. Quelle: Privat

Folgte seinem Bruder Louis nach drei Jahren in die Vereinigten Staaten: Fritz Schütz.
Quelle: Privat

Den ersten Brief schreibt Louis Schütz aus Newark, wo er sich niedergelassen hat, schon am 17. Dezember 1880: „Es lebt sich sehr schön in Amerika, trotzdem man unter verschiedenen Nationen ist; man kann doch rechnen, dass fast die Hälfte hier in dieser Gegend Deutsche sind.“ Louis ist zufrieden mit der Meinungsfreiheit, sieht aber auch das Elend manch eines Landsmannes: „Man braucht keine direkten Steuern und Abgaben zu bezahlen, kann von Politik reden und sprechen was man will, während dem man in Deutschland jedes Wort auf die Waage legen muß; man lebt so recht frei wie ein Vogel in der Luft, doch fällt auch gar manchem armen Auswanderer das Herz in die Schuhe, wenn er hier in diesem Land ankommt mit seiner Familie, hat keinen Cent mehr in der Tasche, wie da so häufig vorkommt, hat keinen Freund oder Bekannten hier, der ihn aufnimmt, und weiß nicht wohin und wo hinaus, da sehnt sich gar mancher wieder zurück nach der Heimath.“

Amerika ist teuer, allein zwei Dollar kostet der Arzt, aber Louis scheint gut zu verdienen, er schickt Geld „für seine kleine Gothe“ – 15 Mark und noch mehr für die „liebe Mutter“ und den Bruder Fritz, dem er rät „nicht immer so schimpfen über das Soldatenleben“ (Brief vom 11. Juli 1881). Immer wieder vergleicht Louis Preise und Löhne in Amerika mit denen in Deutschland: „Das Rasieren kostet hier im allergewöhnlichsten Barber Shop 10 Cents = 40 Pfg. und das Haarschneiden 25 Cents = 1 Mark, dabei geht der Barbier noch keinen Schritt aus dem Hause“ (Brief vom 17. Dezember 1880). Für 1 kg Schweinefleisch bezahlte man um 1900 in Deutschland ungefähr 1 Mark 50.

Louis kennt das Leben der „armen Weber“ aus eigener Anschauung und schlussfolgert: „…, denn um das Loos in Deutschland als armer Mann ist Niemand zu beneiden, trotzdem, dass einem hier die gebratenen Tauben auch nicht gerade in den Mund fliegen, aber man ist ein freier Mensch hier“ (Brief vom 12. Juli 1883). Dennoch: Was das Essen angeht: „die Hauptsache hier ist Fleisch“ (ibid.). Morgens schläft Louis so lange es ihm gefällt, Frühstück besteht aus „Kaffee, Eier oder Beefsteak, Schinken oder kalten Braten usw.“, Zeitung lesen, ein kleiner Spaziergang, Frühschoppen, um 12 Uhr dann im Boarding House Dinner mit feiner Suppe, Braten, Gemüse, Kartoffeln, eine Tasse Mocca und Dessert, und auch zum „Souper“ wieder „jeden Abend Braten und sonst Manches mit Thee, und so geht immer ein Tag nach dem andere hin“ (ibid.).

Nur die englische Sprache war noch ungewohnt

Kein Wunder, dass Fritz, nachdem er im Dezember bei Louis in Newark untergekommen ist, an seine Mutter schreibt: „Bruder Louis, das ist ein gemachter Mann“ (Brief vom 20. Dezember 1883) und für sich selber resümiert er: „Ach, was bin ich so froh, dass ich nicht beim Militär geblieben bin, denn was ists hier so schön leben gegen in dem armen Deutschland“ (Brief von 1884). Nur die Sprache ist noch ungewohnt: „…nur mit dem englisch sprechen, das kostet noch ein bischen aufpassen“, Bruder Louis hingegen „spricht schon ganz schön“ (ibid.).

Und immer wieder: Fleisch ist hier die Hauptsache und „hier ist jeder Mensch frei“. Doch auch kritische Anmerkungen gegenüber Amerika gibt es: „Das ist ein Jagen und Treiben nach die lieben Dollars“ und Hektik bestimmt das Leben, wie das Beispiel von Mr. Gehrhardts Bruder zeigt. Mr. Gehrhardt ist der Betreiber des boarding house, in dem die Schützen essen. Dessen Bruder „war letzten Winter draußen in Wiesbaden, der wollte eigentlich ganz draußen bleiben, aber er ist schon wieder hier, er sagte, es wäre ihm zu langweilig draußen in Deutschland, denn wer einmal hier war, der hat draußen keine Geduld mehr“ (Brief vom 23. April 1886).

Fritz heiratet 1887 Emilie (ist das ein deutscher Name?), die 1867 in Byron/Illinois geboren wurde und folglich berichtet er stolz: „Wir bauen ein schönes zweistöckiges Haus in einer sehr schönen Straße, wo dann der Lui mit uns zusammen wohnen wird. Es soll zum 1. Oktober fertig sein. Der Bauplatz hat 800 Dollar gekostet und das Haus kostete 3000 Dollar. Es kommen 11 Zimmer hinein, so dass wir, wenn Ihr uns einmal besucht, genug Platz haben“ (Brief vom 23. Juli 1889).

Louis Schütz heiratet eine „echte Amerikanerin“

Auch Louis heiratet, und zwar 1894 die Witwe eines befreundeten Musikerkollegen, Elizabeth Hinchcliffe.

Erster Brief von Fritz Schütz aus Newark mit Beschreibung der Reise von Bremen und den ersten Eindrücken von New York.
Quelle: Privat

Begeistert schreibt er: „Besondere Neuigkeiten wüsste ich nicht zu schreiben, als eine kleine Überraschung für Euch, welche meine Persönlichkeit betrifft, was Ihr gewiß nicht mehr erwarten werdet, nämlich dass ich mich verlobt habe und zwar mit einer echten Amerikanerin, denn meine Braut ist von englischer Abkunft und spricht nicht deutsch“ (Brief vom 14. Februar 1894).

Mit seinem Enkel spricht Louis nur deutsch, „während die anderen natürlich in englisch zu ihm sprechen“ (Brief vom 26. August 1913). Der Kleine gedeiht prächtig, er spricht schon vieles „und es ist zu komisch, wie er das englische mit deutschen Worten vermischt“ (Brief vom 30. Juli 1914).

Im Ersten Weltkrieg schlägt sein Herz für das alte Vaterland, die Kriegsspekulanten werden heftig kritisiert: „Die Deutschen hier in Amerika thun Alles was sie nur können, die Noth in Deutschland lindern zu helfen, denn große Summen sind schon hinaus geschickt worden, und jeder, auch der Ärmste trägt sein Scherflein dazu bei, dem alten Vaterland zu helfen, aber gegen den Munitionsschacher scheinen sie nichts ausrichten zu können, trotzdem sie hart dagegen protestieren. Es scheint, der Dollar ist mächtiger hier denn das Herz“ (Brief vom 9. Febraur 1916). Die Geschäfte liegen infolge des Krieges danieder, „denn abgesehen von den Munitions- und Kriegsmaterial-Lieferanten, welche ein Heidengeld verdienen, steht alles still“ (ibid.). Der Brief schließt mit der Hoffnung auf Frieden und speziellen Grüßen der Frau Elizabeth, „welche trotz ihrer englischen Abkunft die gerechte deutsche Sache vertritt“ (ibid.).

Die Tochter entschuldigt sich für ihr schlechtes Deutsch

Fritz Schütz stirbt 1920 an einer Influenza. Seine Tochter Ida informiert die Verwandten im Taunus. Abends habe er noch aufgespielt, kam um drei Uhr morgens nach Hause und „um zwanzig Minuten nach fünf, bevor nun der Doktor kam, schließte (sic!) er seine Augen und ging ruhig schlafen“. Wenn sie auch auf der Hochschule studiert habe, so entschuldigt sie sich für ihr schlechtes Deutsch, jedoch: „Wenn wir auch in Amerika geboren sind, haben wir noch echte deutsche Herzen“ (ibid.).

War er, als er nach Amerika kam, hemmungslos von dem Land begeistert, so scheinen sich bei Louis Schütz mit den Jahren die Gefühle für die alte Heimat zu verstärken: „Daß Deutschland furchtbar zu leiden hat als Nachfolge dieses schrecklichen Krieges, lesen wir hier jeden Tag in der deutschen Zeitung, und es blutet einem das Herz, wenn man alle Schandthaten liest, welche besonders die Franzosen verüben. Wann wird die deutsche Regierung sich endlich einmal aufraffen und der Welt verkünden, wer für diesen unseligen Krieg verantwortlich ist?“ (Brief vom 8. Januar 1923).

Er freut sich über „die herrliche deutsche Musik“, die beim Empfang des Luxusliners „Bremen“ des Norddeutschen Lloyd in New York erklungen ist, und „das alte deutsche Herz fing wieder einmal an schneller zu schlagen“, als der „Graf Zeppelin“ „in stolzer Majestät“ über das Gebiet hinweg zog. „Mußte es doch wieder ein Deutscher sein, welcher dieses Heldenstück vollbracht hat“ (Brief vom 29. August 1929). Seinen letzten Brief schreibt Louis Schütz am 12. Dezember 1936 und freut sich, dass seine Angehörigen in Westerfeld „den alten Onkel in Amerika noch nicht vergessen haben“.

Drei Jahre später stirbt er.

von Dr. Diethelm Knauf

Als Militärmusiker kamen sie nach Amerika, als Musiker verdienten sie ihren Lebensunterhalt: Louis und Fritz Schütz spielten vor ihrer Auswanderung in der preußischen Militärkapelle des 88. Infanterie Regiments Mainz-Kastel. Quelle: Privatbesitz

Als Militärmusiker kamen sie nach Amerika, als Musiker verdienten sie ihren Lebensunterhalt: Louis und Fritz Schütz spielten vor ihrer Auswanderung in der preußischen Militärkapelle des 88. Infanterie Regiments Mainz-Kastel.
Quelle: Privatbesitz

Jung, aber mit viel Geschichte

50 Jahre
Universität Bremen

50 Jahre sind seit der Gründung der Universität Bremen vergangen. Auf dem Weg von der vermeintlichen roten Kaderschmiede zur Exzellenzuniversität ist viel passiert: Wir haben den ersten sowie den aktuellen Rektor interviewt und mit Absolventen gesprochen – zu denen auch Bürgermeister Andreas Bovenschulte gehört. Zudem hat uns ein Architekt über den Campus begleitet. Das Magazin der Reihe WK | Geschichte gibt es ab 18. September in den ­Kundenzentren des WESER-­KURIER, im Buch- und Zeitschriftenhandel, online unter www.weser-kurier.de/shop und unter 0421 / 36 71 66 16.

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