Vor 80 Jahren: Im Frühjahr 1936 waren die ersten Wohneinheiten der Großsiedlung Grolland bezugsfertig / NS-Prestigeprojekt auf der „grünen Wiese“
Geradezu idyllisch sehen die roten Klinkerhäuschen aus. Die sorgsam gerafften Vorhänge und die schmucken grünen Fensterläden vermitteln ein Bild des Friedens, von Behaglichkeit und bescheidenem Wohlstand. Doch der schöne Schein trügt. Ist das Foto doch vermutlich am Vorabend des Zweiten Weltkriegs im Sommer 1939 an der Wurster Straße in Grolland entstanden.
Nicht auf diesem, aber auf etlichen anderen Aufnahmen aus der gleichen Zeit, der gleichen Umgebung flattert die Hakenkreuz-Fahne lustig im Wind. Und war die nicht im Bild, wurde sie auch schon mal reinretuschiert. Denn mit Grolland hatte es etwas Besonderes auf sich.
Gemeinhin gilt die Gartenstadt Vahr als erste Bremer Großsiedlung, die auf der sprichwörtlichen „grünen Wiese“ aus dem Boden gestampft wurde. Ein Vorzeigeprojekt aus den Nachkriegsjahren, das zweifellos neue Maßstäbe setzte. Doch tatsächlich hatte die Gartenstadt Vahr einen häufig gering geschätzten Vorläufer: die höchst ambitionierte Großsiedlung Grolland, die in zwei Bauabschnitten zwischen 1935 und 1940 vor den Toren der Stadt auf dem Gebiet der damaligen Landgemeinde Huchting entstand. Vor ziemlich genau 80 Jahren, im Frühjahr 1936, waren die ersten Wohneinheiten im Nordteil bezugsfertig.
Wie auch der Autobahnbau war die Idee einer ländlich geprägten Großsiedlung keineswegs eine Eingebung des NS-Staats. Vielmehr profitierten die neuen Machthaber von Vorstellungen und Plänen, die es schon lange vorher gegeben hatte. Im Falle der Besiedlung Grollands reichen die ersten Ansätze sogar zurück bis in die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg. Dessen Ausbruch im August 1914 durchkreuzte dann freilich das Bauvorhaben wie auch 1929 die Weltwirtschaftskrise einer Neuauflage das vorzeitige Ende bescherte.
Der NS-Senat holte alte Pläne aus der Schublade
Für den NS-Senat also ideale Voraussetzungen, alte Pläne aus der Schublade zu holen und als grandiosen Neuanfang auszugeben. Mit der ursprünglich englischen Gartenstadt-Idee verwirklichten die braunen Stadtplaner das Konzept einer „Stadtlandschaft“, statt monotoner und starr ausgerichteter Wohnblöcke sollten sich kleine Häuschen organisch anordnen, statt früherer Schachbrettmuster waren leicht gekurvte Straßenführungen gefragt.
Man wollte sozusagen auf krummen Wegen zum Erfolg kommen.
Doch das war natürlich nicht alles. Es ist unübersehbar, dass der Siedlungsbau unter NS-Vorzeichen ideologisch aufgeladen wurde. In der „Blut und Boden“-Ideologie spielte der Bauer als Rückgrat deutschen Volkstums eine entscheidende Rolle, von der „Rückführung“ quasi unfreiwillig entarteter „Volksgenossen“ von der Stadt aufs Land oder zumindest in eine pseudo-ländliche Umgebung versprachen sich die braunen Vordenker eine nachhaltige Stärkung des „Volkscharakters“.
Nicht zuletzt auch darum die starke Betonung der Selbstversorgung – durch die imaginierte Rückkehr auf die eigene Scholle sollten die Siedler ihre Wurzeln neu entdecken. Und das natürlich mit sehr willkommenen Nebeneffekten vom Kinderreichtum bis zur Stärkung der Wehrhaftigkeit. Dass es sich dabei um eine Illusion handelte, eine völkische Utopie, bedarf keiner näheren Beweisführung. Völlig zu Recht spricht der Grolland-Experte Ottmar Hinz von einem „Arbeiterstadtteil im bäuerlichen Gewand“.
Nach Ende der Bauarbeiten im Nordteil ging es im Süden weiter
Als die Arbeiten im Nordteil 1937 abgeschlossen waren, richteten die Planer ihre Aufmerksamkeit auf den Südteil. Schon damals lief mitten durch das Baugebiet die Oldenburger Straße, damals als Reichsstraße 75. Eine signifikante Trennlinie, die bis heute von ihrer separierenden Wirkung nichts verloren hat, ja durch die Höherlegung der B 75 in den Jahren 1971/72 sogar noch verschärft wurde.
Unter den neuen Siedlern im Südteil befand sich auch das Ehepaar Friedrich und Erna Sorger. Der damals 38-Jährige war weit herumgekommen in der Welt. Beim Bremer Vulkan hatte er den Beruf des Schlossers gelernt und als junger Mann beim Norddeutschen Lloyd angeheuert. „In den 1920er Jahren war er im Südamerika-Dienst und im Fernen Osten unterwegs, bis nach China ist er gekommen“, berichtet sein Sohn Gerald.
Doch in den frühen 1930er Jahren war Schluss damit, Sorger wurde im wahrsten Sinne des Wortes bodenständig. Das unstete Leben auf hoher See vertauschte er mit einer Anstellung bei der Feuerwehr. Zur Ruhe zu kommen, eine Familie zu gründen – das waren seine neuen Ziele, nicht mehr ferne Länder.
Sowohl für ihn als auch für seine Frau war es der zweite Anlauf, beide waren schon einmal verheiratet gewesen.
Dass die Erwählte eine damals fünfjährige Tochter mit in die Ehe brachte, machte ihm nichts aus. Im November 1934 läuteten die Hochzeitsglocken. In Findorff fand die kleine Familie eine Bleibe, in einer Mietwohnung an der Hemmstraße.
Aber das sollte nicht die Endstation sein. Zweifellos verfolgten Friedrich und Erna Sorger aufmerksam das Geschehen in Grolland, zumal auch die Presse ausführlich darüber berichtete. „Keine schnurgeraden Straßen und Häuserfronten, kein uniformes Gesicht der Häuser, keine kalte Nüchternheit, keine häßlichen Farben mehr, sondern freundlich und anheimelnd, als kleine Gemeinschaft von Häusern, liegt der fertige Teil von Grolland da“, schwärmten die Bremer Nachrichten im November 1936 über den Fortgang der Bauarbeiten im Nordteil.
Als Siedler wurde nicht jeder genommen
Als 1938 auch der Südteil in Angriff genommen wurde, rührte man abermals die Werbetrommel. Für Familie Sorger eine willkommene Gelegenheit, die enge Mietwohnung in Findorff zu verlassen, um sich in ländlich geprägter Umgebung den urdeutschen Traum vom Eigenheim zu erfüllen.
Denn dafür reichte das bescheidene Einkommen als Feuerwehrmann gerade eben aus, das erforderliche Eigenkapital konnte Sorger beisteuern und brauchte sich deshalb nicht als Kleinsiedler oder Anwärter auf eine „Volkswohnung“ zu bewerben.
Als Siedler wurde freilich nicht jeder genommen. Wer Interesse bekundete, musste eine Reihe von Bedingungen erfüllen. Dazu gehörte eine lupenreine nationale Gesinnung, man hatte politisch zuverlässig zu sein, rassisch wertvoll und durfte vor allem keine Erbkrankheiten haben. Anforderungen, denen Friedrich Sorger offenbar genügen konnte. „Als Feuerwehrmann war mein Vater natürlich in der NSDAP“, sagt sein Sohn.
Selbst mit Hand anlegen beim Bau seines neuen Hauses musste Sorger nicht, als voll Berufstätiger wäre das auch kaum möglich gewesen. Errichtet wurde das Klinkergebäude von einer Baufirma im Auftrag der „Bremischen Bau- und Siedlungsgesellschaft mbH“ (Brebau), die im September 1938 aus der Siedlungs- und Baugenossenschaft Grolland hervorgegangen war.
Einen merkwürdigen Klang hat der Straßenname „Wurster Straße“. Schon bei einem Blick auf die Nachbarstraßen wird das Prinzip aber klar: Die hießen Ammerländer, Sagterländer oder Jeverländer Straße. Norddeutsche Landschaften standen mithin Pate bei der Namenswahl.
Gauleiter Röver sprach despektierlich von„roten Pissbuden“
Dass der Siedlungsbau in Grolland unverkennbare Züge einer NS-Mustersiedlung trug, steht außer Frage. Da mag es als Widerspruch erscheinen, wenn Gauleiter Carl Röver despektierlich von „roten Pissbuden“ sprach. Doch derlei illustriert nur seine Vorbehalte gegen die überschaubare Größe der Siedlerhäuschen, die in seinen Augen dem erhofften Kindersegen nicht zuträglich war.
In den ersten Jahren fanden sich sogar Besuchergruppen aus England und Schweden ein, man wollte international glänzen mit der neuen Großsiedlung. Freilich haperte es im Detail. Nicht nur, weil die zugesagten Gemeinschaftsbauten bis in die Nachkriegsjahre auf sich warten ließen. Auch die ungepflasterten Straßen sorgten für mancherlei Verdruss. Bei widrigem Wetter verwandelten sie sich in Schlammwüsten, ohne Ersatzschuhe konnten sich die Grollander kaum nach draußen wagen.
Auch das viel propagierte Ideal der „Volksgemeinschaft“ erwies sich als nicht unbedingt praxistauglich. Entgegen der Maxime, für eine Durchmischung sozial schwächerer und stärkerer Siedler zu sorgen, kam es vor allem im Nordteil doch wieder zu deutlichen Trennlinien, erkennbar an reinen Kleinsiedler- und Eigenheimstraßen. Ein Manko, das mit der unzulänglichen finanziellen Ausstattung der Baugenossenschaft zu tun hatte. Nach deren Umwandlung in die Brebau korrigierte man das Problem im Südteil, wo Eigenheime, Kleinsiedlungen und Sozialwohnungen in direkter Nachbarschaft gebaut wurden. Ein Phänomen, das auf den alten Familienfotos gut zu erkennen ist: Als Doppelhäuser stehen die Bauten für Einkommensschwache gleich hinter dem Eigenheim der Sorgers. Mit anderen Worten, die Planer lernten aus ihren Fehlern, im Südteil gab es weniger Unzulänglichkeiten als im Nordteil.
Auch in Grolland hinterließ der Bombenkrieg seine Spuren
Nicht völlig unbeschadet überstand die Großsiedlung den Bombenkrieg. Zwar kam Grolland im Vergleich zum Bremer Westen noch glimpflich davon, doch wegen der Nähe des Flughafens geriet auch Grolland immer wieder ins Visier alliierter Maschinen. Insgesamt wurden 46 Häuser zerstört oder schwer beschädigt, darunter 1944 auch das Heim der Familie Sorger. „Mit den geringsten Mitteln haben meine Eltern das Haus nach dem Krieg selbst wieder aufgebaut“, sagt Gerald Sorger.
Noch lebhaft in Erinnerung hat Sorger die ständige Gartenarbeit. Dabei ging es nicht etwa darum, eine Augenweide zu schaffen oder irgendwelchen ästhetischen Ansprüchen zu genügen. Nutzpflanzen statt Zierpflanzen, lautete die Devise auch noch lange nach dem Ende des „Dritten Reichs“. Auf den erhaltenen Fotos ist gut zu erkennen, wie viel Platz die Obst- und Gemüsepflanzen in Anspruch nahmen. Nur vereinzelt findet sich Rasenfläche oder ein Blumenbeet. „Es verstand sich von selbst, dass wir Kartoffeln angebaut haben“, sagt der heute 68-Jährige. „Immerzu hat meine Mutter Gemüse und Obst aus dem Garten eingeweckt. Und unsere Äpfel haben wir an die Nachbarn verkauft.“
Daneben hielt die Familie von Anfang an auch Kleintiere, Kaninchen und Hühner. Letztere habe es auch noch nach dem Krieg gegeben, so Sorger. „Die Kaninchen wurden aber schon während des Krieges gegen andere Lebensmittel eingetauscht.“
Es dauerte eine Weile, bis sich die Familie Sorger von den Kriegsfolgen erholt hatte. Wegen seiner Parteizugehörigkeit büßte der Familienvater im Rahmen der Entnazifizierung vorübergehend seine Stellung bei der Feuerwehr ein. „In dieser Zeit musste er auf einem Müllberg arbeiten“, sagt Gerald Sorger.
Doch es kamen auch wieder bessere Zeiten, zuletzt arbeitete sein Vater als Beamter in der Feuerwehr-Zentrale „Am Wandrahm“. Nach seiner Pensionierung reichte es sogar für ein erstes Auto, einen Ford M. Ein wenig mehr Lokalpatriotismus legte sein Filius an den Tag, der in einem „Borgward Cabrio“ durch den Garten kurvte.
In den frühen Nachkriegsjahren entstanden endlich auch die ersten öffentlichen Gebäude und von 1962 bis 1964 im Bereich der Norderländer Straße eine neue Siedlung. Zu diesem Zeitpunkt neigte sich der Aufenthalt der Familie Sorger allerdings schon dem Ende entgegen, 1969 wurde das Haus verkauft. Keine ganz einfache Angelegenheit, wie sich Sorger erinnert. „Wir mussten einen Käufer mit Berechtigungsschein finden.“ Ein Nachklang der obrigkeitsstaatlichen Vergangenheit der Großsiedlung auch, dass die Familie den Kaufpreis nicht frei bestimmen konnte. „Der wurde geschätzt“, sagt Sorger – und zwar auf 59.000 DM. „Heute“, meint er, „würden wir sicherlich das Dreifache bekommen.“
von Frank Hethey