Weihnachten im Krieg: Heiligabend 1944 als Ruhe vor dem Sturm

Im Zeichen des „totalen Krieges“ stand das sechste Kriegsweihnachten: Die Gabentische blieben leer, Weihnachtskarten sollten nicht mehr verschickt werden. Nur die Versorgung mit Tannenbäumen war kurioserweise sichergestellt. Ein bisschen Frieden herrschte im nordwestdeutschen Luftraum: Schon seit mehr als zwei Monaten hatte es keine Bombenangriffe auf Bremen mehr gegeben. Doch nur allzu bald entpuppte sich die Atempause als Ruhe vor dem Sturm.       

Zum Vergleich das Weihnachtsfest 1939 bei Familie Sorger - der Vater noch in Zivil. Bildvorlage: Gerald Sorger

Zum Vergleich das Weihnachtsfest 1939 bei Familie Sorger – der Vater noch in Zivil. Bildvorlage: Gerald Sorger

Schwer ums Herz wurde Magret Rehm in den Weihnachtstagen 1944. Als die beiden kleinen Töchter im Bett waren, zückte die 35-Jährige ihr Tagebuch. „Unsere Kinder haben ihren Tannenbaum auch heute am 6. Kriegs-Heiligabend bekommen“, notierte sie mit einer gewissen Genugtuung. Doch wirkliche Festtagsstimmung wollte nicht aufkommen. In stummer Zwiesprache richtete sie das Wort an ihren gefallenen Ehemann. „Du fehlst einfach überall“, schrieb die Delmenhorsterin in wehmutsvollem Ton. „Oh, könntest Du noch bei uns sein.“

Deutlich gelöster war die Atmosphäre an Bord des Schweren Kreuzers „Admiral Scheer“. Als Ausbildungsschiff hatte der Stahlkoloss seit 1943 in Gotenhafen gelegen, dem früheren Gdingen an der Danziger Bucht. Erst im November 1944 war es wieder ernst geworden für das Panzerschiff, als es den Rückzug der deutschen Truppen aus Estland deckte: die Feuertaufe für die jungen Rekruten an Bord.

Verlebte das Weihnachtsfest 1944 an Bord der „Admiral Scheer“: Kurt Reschke, hier als Rekrut der Kriegsmarine im Februar 1944. Bildvorlage: Kurt Reschke

Verlebte das Weihnachtsfest 1944 an Bord der „Admiral Scheer“: Kurt Reschke, hier als Rekrut der Kriegsmarine im Februar 1944. Bildvorlage: Kurt Reschke

Doch am heiligen Abend schwiegen die Geschütze. Auf jedem Deck habe ein Weihnachtsbaum gestanden, berichtet der damalige Seekadett Kurt Reschke. „Die Bäume hatten sogar richtige Kerzen. Und das, obwohl Rauchen sonst strengstens verboten war.“ Um die Truppe bei Laune zu halten, gab’s Punsch für alle. Am Tagesende seien die jungen Leute „in gehobener Stimmung“ gewesen, erinnert sich der 88-Jährige aus Oberneuland.

Gegen Jahresende 1944 lag Bremen schon längst in Trümmern. Der einzige Trost in diesen Festtagen: Seit den verheerenden Bombenangriffen vom 6. und 12. Oktober 1944 hatte es kaum noch Fliegeralarm gegeben. „In den letzten Wochen haben wir so ziemlich Ruhe gehabt“, notierte Magret Rehm im November 1944. Zwar heulten einen Tag vor Heiligabend noch einmal die Sirenen – aber es fiel nur eine verirrte Sprengbombe, nach gut einer Stunde kam die Entwarnung.

Die Fronten hatten sich stabilisiert

Wie stellte sich die Kriegslage zu diesem Zeitpunkt dar?

Aus deutscher Perspektive überaus finster, wie Kreisleiter Max Schümann einräumen musste. „Unsere deutschen Soldaten stehen nicht mehr in den Ländern Europas weit vor den Grenzen des gesicherten Reiches“, so sein ernüchterndes Resümee kurz vor Weihnachten. Dennoch schien der ungestüme Vormarsch der Alliierten seit Sommer 1944 fürs Erste gestoppt. An den Kriegsschauplätzen im Westen und Osten hatten sich die Fronten halbwegs stabilisiert. Aus Ostpreußen hatte sich die Rote Armee sogar wieder zurückziehen müssen. Im Westen war zwar Aachen als erste deutsche Großstadt von den Amerikanern eingenommen worden, aber der Rhein noch nicht überschritten.

Bei vielen Deutschen weckte die hochgepriesene „Wunderwaffe“ große Hoffnungen auf eine Rückkehr des Kriegsglücks – die Vergeltungswaffen als Zeichen ungebrochenen Kampfgeistes. „Weiter bringen unsere V 1 und V 2 Tod und Zerstörung nach London und Südengland“, frohlockte Magret Rehm über den Raketenbeschuss des feindlichen Territoriums.

War in gedrückter Stimmung am heiligen Abend 1944: Tagebuchschreiberin Magret Rehm, hier mit einer ihrer beiden Töchter. Bildvorlage: Privat

War in gedrückter Stimmung am heiligen Abend 1944: Tagebuchschreiberin Magret Rehm, hier mit einer ihrer beiden Töchter. Bildvorlage: Privat

Der Beginn der deutschen Ardennenoffensive kurz vor Weihnachten bestärkte die Parteigänger Hitlers in ihrem Glauben an den verheißenen „Endsieg“. „Man klammerte sich an jeden Strohhalm“, so Reschke. Befeuert wurde solch spärlich keimender Optimismus von Durchhalteparolen der Parteioberen. Noch am 24. November 1944 gab sich Propagandaminister Joseph Goebbels bei einem Bremen-Besuch alle Mühe, das NS-Führerkorps auf den „Endsieg“ einzustimmen.

Mit dem „totalen Krieg“ ernst gemacht

Für die Zivilbevölkerung war indes vieles anders als noch im Jahr zuvor. Erst unter dem Eindruck der alliierten Kriegserfolge im Verlauf des Jahres 1944 hatte die NS-Staatsführung wirklich ernst gemacht mit dem schon nach Stalingrad ausgerufenen „totalen Krieg“. Das Kulturleben war stark eingeschränkt worden, die Dienstverpflichtungen häuften sich, in Gestalt des „Volkssturms“ sollten die letzten Reserven im Kampf gegen den Feind mobilisiert werden. In Bremen hatten sich die 16- bis 60-Jährigen bis zum 4. Dezember melden müssen. Ihnen blühte ein Kampfeinsatz ohne vollwertige Ausbildung, ohne auch nur annähernd angemessene Bewaffnung. Womöglich als Kanonenfutter zu enden – keine sehr anheimelnden Aussichten in diesen Festtagen.

An einen reich bestückten Gabentisch war 1944 nicht mehr zu denken. Selbst Kreisleiter Max Schümann musste zugeben, dass die sechste Kriegsweihnacht so wenig Präsente wie noch nie zuvor bringen werde. Der Grund lag auf der Hand: Die Produktion für den zivilen Bedarf war praktisch eingestellt, selbst betuchte Bremer wurden ihr Geld nicht mehr los.

„Volksgenosse, die Möglichkeit, teure Weihnachtsgeschenke zu machen, ist in diesem Jahr nur gering“, sprach die „Bremer Zeitung“ aus, was den meisten Lesern wohl auch ohne diese altväterlichen Worte klar gewesen sein dürfte. Stattdessen erging der gute Rat, das ohnehin nutzlose Geld dem Winterhilfswerk zu spenden, damit werde den Bombengeschädigten geholfen und die Volkskraft gestärkt. „Und stark zu sein für den Kampf bis zum Sieg, das ist für uns das Allerwichtigste und darum ist es auch in diesem Jahr unser aller größter Weihnachtswunsch!“

Keine weihnachtlichen Kartengrüße

Vom Kriegsgeschehen betroffen war auch der Paket- und Postverkehr. Aus Mangel an Transportkapazitäten kam der bisher übliche Versand von Feldpostpäckchen fast vollständig zum Erliegen. Auch weihnachtliche Kartengrüße waren nicht mehr gern gesehen. „In einer Zeit höchster Anspannung aller Kräfte des Volkes wäre es unverantwortlich, wenn man die Reichspost mit Weihnachtskarten belasten wollte“, dozierte die „Bremer Zeitung“ . Das galt erst recht für entfernte Bekannte. Ihnen Weihnachtskarten zu übermitteln sei „heute höchst unangebracht“, befand das Blatt und empfahl im gleichen Atemzug, sich auf bloßen Briefverkehr mit Verwandten und guten Bekannten zu beschränken.

Da ist es fast erstaunlich, dass die Staats- und Parteiführung den geradezu sportlichen Ehrgeiz entwickelte, sämtliche Familien mit einem Tannenbaum zu beglücken. Der Bedarf sei genau berechnet worden, ließ Kreisleiter Schümann wissen. „Die Bäume werden rechtzeitig herankommen“, versicherte er den Bremer Hausfrauen am 18. Dezember 1944 bei einer Kundgebung in der „Glocke“.

Wenigstens das war offenbar kein leeres Versprechen wie das Beispiel der „Kriegerwitwe“ Rehm mit ihren beiden Töchtern zeigt. Mochte es auch an allen Ecken und Enden fehlen, Tannen gab es noch ausreichend in deutschen Wäldern. Wenn schon sonst nichts, sollte zumindest der Weihnachtsbaum der Bevölkerung erhalten bleiben. Für den jüngeren Nachwuchs daheim immerhin ein Stückchen Weihnachtsnormalität. Kerzen waren zwar Mangelware. Aber: „Wir haben aus Resten neue gemacht“, so Magret Rehm in ihrem Tagebuch.

Heiligabend ohne die älteren Kinder

Ein Wermutstropfen freilich, dass Eltern erstmals ohne ihre älteren Kinder Heiligabend feiern mussten. Im Vorjahr waren die 10- bis 14-jährigen noch aus den Lagern der Kinderlandverschickung (KLV) in Sachsen über die Feiertage nach Bremen heimgekehrt. Oder die Eltern hatten die Möglichkeit gehabt, ihre Sprösslinge mit eigens zusammengestellten Besuchszügen aufzusuchen.

Das kam nun nicht mehr in Betracht.

Als Grund teilte die „Bremer Zeitung“ ihren Lesern mit, die Reichsbahn sei „auch in der Weihnachtszeit mit dringendsten Kriegsaufgaben voll in Anspruch genommen“. Eine Lockerung der Reisebeschränkungen wurde daher nur in zwingenden Ausnahmefällen gewährt. „Der Verzicht trifft die Eltern, aber sie tröstet das Gefühl, daß sie ihre Liebsten in Sicherheit wissen.“

Ein fataler Trugschluss, wie sich alsbald zeigen sollte. Nach Beginn der russischen Winteroffensive am 12. Januar 1945 brach die Ostfront innerhalb weniger Tage zusammen. Als auch Dresden einen Monat später zerstört wurde, war endgültig offensichtlich, in welcher Gefahr die Bremer Kinder in Sachsen schwebten. Unter vielfach chaotischen Umständen kehrten sie in überstürzter Flucht nach Bremen zurück.

Auch für Kurt Reschke war die weihnachtliche Behaglichkeit bald vorbei. Nachdem die „Admiral Scheer“ mit ihren weitreichenden Geschützen im November 1944 bereits bei den Kämpfen der eingeschlossenen Heeresgruppe Kurland eingegriffen hatte, deckte sie nun den deutschen Flüchtlingsstrom aus Ostpreußen. „Von Pillau aus haben wir den Landweg nach Königsberg freigeschossen“, sagt Reschke. „Praktisch über die Köpfe der Flüchtlinge hinweg.“

Und Magret Rehm?

Als gläubige Nationalsozialistin bewahrte sie sich ihre ungebrochene Siegeszuversicht fast bis zur Kapitulation auf. Erst in den letzten Kriegstagen dämmerte ihr, dass das ständige Gerede vom „Endsieg“ nichts als heiße Luft gewesen war. „Adolf Hitler soll tot sein“, schrieb sie am 3. Mai 1945 konsterniert in ihr Tagebuch. Dann sei alles verloren – „oder wir sind grenzenlos von unserer eigenen Führung betrogen worden“.

von Frank Hethey

Weihnachten 1943 bei der Familie Sorger in Bremen: Noch wirkt das Fest einigermaßen beschaulich, der Baum ist noch mit Lametta geschmückt, der Gabentisch gut gedeckt. Vater Friedrich Sorger trägt die Uniform der Berufsfeuerwehr. Bildvorlage: Gerald Sorger

Weihnachten 1943 bei der Familie Sorger in Bremen: Noch wirkt das Fest einigermaßen beschaulich, der Baum ist noch mit Lametta geschmückt, der Gabentisch gut gedeckt. Vater Friedrich Sorger trägt die Uniform der Berufsfeuerwehr. Bildvorlage: Gerald Sorger

Jung, aber mit viel Geschichte

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50 Jahre sind seit der Gründung der Universität Bremen vergangen. Auf dem Weg von der vermeintlichen roten Kaderschmiede zur Exzellenzuniversität ist viel passiert: Wir haben den ersten sowie den aktuellen Rektor interviewt und mit Absolventen gesprochen – zu denen auch Bürgermeister Andreas Bovenschulte gehört. Zudem hat uns ein Architekt über den Campus begleitet. Das Magazin der Reihe WK | Geschichte gibt es ab 18. September in den ­Kundenzentren des WESER-­KURIER, im Buch- und Zeitschriftenhandel, online unter www.weser-kurier.de/shop und unter 0421 / 36 71 66 16.

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