Ein Blick in die Geschichte (164): Die Schwestern Landau am Bahnübergang Bultstraße in Hemelingen
So richtig geheuer waren der kleinen Veronika Landau die rumpelnden Züge nicht. „Als Kind ist man ja so irrational“, sagt die 68-Jährige rückblickend. „Schon allein die Lokomotiven! Die waren so groß, so laut, es hat gezischt und gedampft.“ Insgeheim habe sie befürchtet, die fauchenden Stahlrösser könnten unversehens die Gleise verlassen und geradewegs auf sie zurollen. Zum Glück ist das nicht geschehen, bis heute fahren die Züge auf den Schienen und nicht etwa auf der Straße.
Veronika Landau versteht sich als Hemelinger Deern. In einer Mietwohnung an der Bultstraße 3 ist sie aufgewachsen, im Frühling 1952 war ihre Familie von Hastedt nach Hemelingen gezogen. Zu ihrem Leidwesen stand bereits sieben Jahre später der nächste Umzug an.
Noch heute schwärmt sie von der Stätte ihrer Kindheit. „Hemelingen war zu der Zeit noch ein Dorf“, sagt sie. Gemeint ist damit wohl vor allem die intakte soziale Struktur, weniger ein wirklich dörflicher Charakter. Denn die ländliche Idylle von ehedem war in ihren Kindertagen nur noch am Rande vorhanden, schon seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gab es bedeutende Industrieansiedlungen im damals noch preußischen Hemelingen.
Einmal die Bultstraße hinunter bis zum Bahndamm zu gehen, das war für die kleine Veronika und ihre ältere Schwester Waltraut ein beliebter Gang. Bei einer solchen Gelegenheit lichtete der Elektromechaniker Helmut Landau seine beiden Töchter ab. Sicher keine Momentaufnahme, sondern ein im wahrsten Wortsinne gestelltes Bild. Im feinsten Sonntagsputz stehen sie Hand in Hand da, beide tragen sogar ein Handtäschchen. Dabei bewies der Herr Papa ein gutes Auge fürs Motiv, als Betrachter sieht man den herannahenden Zug aus der Perspektive der Mädchen. Wie skeptisch die kleine Veronika allerdings war, belegt der zweite Schnappschuss – ihr abgewandter, vermutlich ein wenig furchtsamer Blick gehörte sicher nicht zur erwünschten Choreographie. Vergebens scheint ihre Schwester sie zu ermahnen, in die Kamera zu schauen statt in Richtung Zug.
Tragischer Unglücksfall im Mai 1952
Wann genau die Fotos entstanden sind, vermag Veronika Landau heute nicht mehr zu sagen. Sie tippt auf die frühen 1950er Jahre, 1952 oder 1953. In jenen Jahren verrichtete noch ein Schrankenwärter seinen Dienst am Bahnübergang Bultstraße. Überschattet wurde diese Zeit von einem tragischen Unglücksfall: Im Mai 1952 raste ein angetrunkener LKW-Fahrer unmittelbar hinter der Bahnschranke in eine Gruppe spielender Kinder, ein achtjähriger Junge kam dabei ums Leben.
Damals war die Fläche jenseits der Bahnlinie noch nicht bebaut, das geschah erst einige Jahre später. Dabei hätten die Hemelinger gern schon viel früher ein neues Quartier auf dem Gelände zwischen Bultstraße und Angeln aus dem Boden gestampft. Die Wohnungsnot war groß in der frühen Nachkriegszeit, allein in Hemelingen zählten die Behörden 1958 noch 1700 Wohnungssuchende.
Dass der Wohnungsneubau in Hemelingen stockte, hatte keineswegs mit mangelnder Einsicht zu tun. Im Wohnungsbauamt lagen die Pläne schon fertig auf dem Tisch, doch Baudirektor Klaus Tippel wollte nicht eher grünes Licht geben, als bis die Versorgungsleitungen fertiggestellt wären. Und das dauerte, noch 1957 galt die Kanalisation als „das große Sorgenkind“ von Hemelingen. Erst ab 1959 wurden die lang gehegten Baupläne endlich umgesetzt: Die Bremische Gesellschaft zur Förderung des Wohnungsbaus errichtete 180 Wohnungen auf dem Gelände.
von Frank Hethey