Am Morgen des 16. August 1988 überfielen zwei maskierte und bewaffnete Männer eine Filiale der Deutschen Bank in Gladbeck (Nordrhein-Westfalen). Ihr Plan, zusammen mit zwei als Geiseln genommenen Angestellten der Bank auf den Filialleiter zu warten, um sich mit dessen Schlüssel Zugang zum Tresor zu verschaffen, ging nicht auf. Ein Passant alarmierte die Polizei.
Dies war der Auftakt zu einem Verbrechen, das als Gladbecker Geiseldrama in die deutsche Kriminalitätsgeschichte einging. Drei Menschen sollten dabei ums Leben kommen, was besonders in Bremen wegen eines völlig misslungenen Polizeieinsatzes tiefe Spuren hinterließ. Ein von der Bremischen Bürgerschaft später eingesetzter Untersuchungsausschuss sollte in seinem Abschlussbericht von einer desorganisierten und völlig überforderten Polizei sprechen.
In Gladbeck brauchte man nicht lange, die Täter zu identifizieren: Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski, zwei stadtbekannte Kriminelle, beide erheblich vorbestraft. Am Abend verließen sie die Bank zusammen mit den beiden Geiseln, dem Kassierer und einer weiteren Angestellten, in einem von der Polizei bereitgestellten Fahrzeug.
Bevor sie die Stadt endgültig verließen, holten sie die Freundin Rösners ab, Marion Löblich, eine gebürtige Bremerin, die seit Jahren in Gladbeck wohnte. Nach ihrer nächtlichen Flucht durch Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen gingen am Vormittag des 17. August bei der Bremer Polizei erste Hinweise darauf ein, dass sich die Geiselnehmer mit ihren Opfern auf Bremen zubewegten.
Gegen 14.30 Uhr waren sie in Vegesack. Rösner und Löblich verließen das Fluchtfahrzeug für rund eine Stunde, um in Bremen-Nord einzukaufen. Offenbar fühlten sie sich sicher und unbeobachtet – zu Unrecht, denn die Verfolgungskräfte aus Nordrhein-Westfalen waren vor Ort: mit 26 Beamten des Mobilen Einsatzkommandos in 3 Hubschraubern und 19 Fahrzeugen sowie 22 Beamten des Sondereinsatzkommandos. Die Gesamteinsatzleitung, so wurde verabredet, sollte weiterhin von Gladbeck aus geleistet werden. Bremer Polizeikräfte wurden zur Unterstützung bereitgestellt.
Der erste und einzige telefonische Kontakt
Am Nachmittag setzten die Täter mit ihren Geiseln, von der Polizei völlig unbehelligt, mit der Fähre über die Weser und erpressten in einem Delmenhorster Autoverleih einen neuen Fluchtwagen, mit dem sie nach Bremen zurückfuhren. Die weitgehend ortsunkundigen Polizeikräfte aus Nordrhein-Westfalen verloren die Flüchtenden zwischenzeitlich aus den Augen.
An einer Tankstelle in der Neuenlander Straße wurden sie erneut gesichtet und kamen gegen 18 Uhr im Bremer Ortsteil Huckelriede an. Zu diesem Zeitpunkt kam es zum ersten und einzigen telefonischen Kontakt zwischen Rösner und der Polizei. Zunächst hatte der Gladbecker Kassierer sich über die Notrufnummer 110 gemeldet und gefordert, die Verfolgungsaktivitäten einzustellen und sich zurückzuziehen.
Es bestünde sonst die Möglichkeit, dass der Geiselnehmer Degowski „durchdrehen“ könnte. Anschließend schaltete sich Rösner in das Gespräch ein und signalisierte seine Bereitschaft, die weibliche Geisel gegen einen Polizisten auszutauschen: Der müsste dann „in Handschellen auf dem Rücken kommen“.
Ein weiterer Telefonkontakt, dieses Mal mit der polizeilichen Verhandlungsgruppe, wurde für eine Stunde später verabredet. Er kam allerdings wegen einer offenbar falsch übermittelten Nummer nicht zustande. Jetzt übernahm die Bremer Polizei die Einsatzleitung. Unmittelbar nach dem Telefonat mit der Polizei kaperten die Geiselnehmer einen an der Haltestelle wartenden Bus der Bremer Straßenbahn AG, in dem 30 Menschen saßen.
Was zu dieser erneuten Geiselnahme geführt hatte, war nicht sofort klar. Der später eingerichtete Untersuchungsausschuss folgerte, dass Rösner eines der Fahndungsfahrzeuge wiedererkannt hatte, mit dem er schon in der Neuenlander Straße Kontakt hatte. Spätestens jetzt geriet das weitere Geschehen um die Geiselnehmer und ihre Gefangenen zu einem öffentlichen Spektakel, wie es bis dato ohne Beispiel war.
Im Bericht des Bremer Untersuchungsausschusses sollte später von „regem Publikumsverkehr“ die Rede sein. Die Polizei hatte es versäumt, den Tatort weiträumig abzusperren, sodass Schaulustige und Medien, insbesondere Fotografen und das Fernsehen, praktisch ungehinderten Zugang hatten – auf Aufforderung der Geiselnehmer bis in den gekaperten Bus hinein.
Die Kontrolle verloren
Und den nutzten sie weidlich aus. Kameraaufnahmen von Geiseln, Tätern und Passanten, die sich immer wieder dem Bus näherten, flimmerten zu sämtlichen Nachrichtenzeiten bundesweit über die Bildschirme. Interviews mit dem bewaffneten Rösner, der offen mit Mord und Selbstmord drohte und einem kleinen Mädchen die Pistole gegen den Kopf hielt, wurden ausgestrahlt, ein Fotograf versuchte sich – wenn auch letztlich erfolglos – als Vermittler zwischen Polizei und Geiselgangstern.
Er bemühte sich ein letztes Mal, über sein Autotelefon Kontakt zur Verhandlungsgruppe zu bekommen, um sie mit Rösner ins Gespräch zu bringen. Es misslang. Niemand nahm ab. Der Tag der Geiselnahme von Gladbeck, der für Bremen mit der Ankunft von drei Kriminellen und zwei Geiseln in Vegesack begonnen hatte, endete damit, dass ein Bus mit 30 Geiseln die Stadt verließ – verfolgt von einem Tross von Journalisten und Einsatzfahrzeugen der Polizei, der die Kontrolle über das Geschehen vollständig entglitten war.
Rösner ließ den Bus an der Gaststätte Grundbergsee halten, wo die beiden Gladbecker Geiseln im Austausch gegen zwei Journalisten freigelassen wurden. Als Marion Löblich, zusammen mit drei weiblichen Geiseln zur Toilette der Raststätte ging, wurde sie von Beamten des bremischen Mobilen Einsatzkommandos festgesetzt.
Die Beamten beriefen sich dabei später auf eine Notwehrsituation, die für den Untersuchungsausschuss allerdings nicht nachvollziehbar war. Nachdem Rösner mit der Erschießung von Geiseln gedroht hatte, wurde Löblich wieder freigelassen, was sich allerdings zeitlich hinzog – aus Gründen von Kommunikationsproblemen in der Befehlskette und weil ein Schlüssel für ihre Handschellen abgebrochen war.
Der Zeitrahmen des Ultimatums lief ab. Während Löblich bereits auf dem Rückweg war, schoss Degowski im Bus auf Emanuele de Giorgi. Erst nach 20 Minuten traf ein Notarztwagen ein, der de Giorgi zum Zentralkrankenhaus St.-Jürgen-Straße brachte. Dort starb der junge Italiener um 1.15 Uhr an seinen Verletzungen.
Die Flucht endete auf der Autobahn
Die Geiselnahme von Gladbeck hatte damit bereits ihr zweites Todesopfer. Vorher war der Polizeiobermeister Ingo Hagen auf der Fahrt zur Raststätte Grundbergsee tödlich verunglückt. Der Bus verließ nach dem Schuss die Raststätte Grundbergsee in Richtung Osnabrück. Die Einsatzleitung lag ab diesem Zeitpunkt wieder bei der Polizeiführung in Gladbeck. Nach einer Irrfahrt bis kurz hinter die niederländische Grenze ließen die Täter alle Geiseln bis auf Ines Voitle und Silke Bischoff frei und fuhren – jetzt wieder in einem Pkw – nach Deutschland zurück.
Nach Zwischenaufenthalten in den Innenstädten von Wuppertal und Köln, wo das Medienspektakel von Bremen noch eine Steigerung erfuhr, endete die Flucht der Geiselnehmer am 18. August mittags auf der Autobahn 3 in Richtung Frankfurt. Ein ziviler Polizeiwagen rammte bei Bad Honnef das Fluchtfahrzeug. Voitle konnte sich durch einen Sprung aus dem Fahrzeug retten, Bischoff wurde von einem Schuss aus Rösners Waffe tödlich getroffen. Die Täter wurden festgenommen.
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