Vor 60 Jahren begann mit dem ersten Spatenstich für das Siemens-Hochhaus die Neugestaltung des Herdentorviertels
Obwohl der Wiederaufbau in den 1950er-Jahren große Fortschritte gemacht hatte, gab es in Bremen immer noch zahlreiche kriegszerstörte Flächen, auf denen wenig geschah. Ein solcher Ort war das Herdentorviertel in der östlichen Bahnhofsvorstadt. Der Besucher, der um 1960 aus dem Bahnhofsgebäude trat, konnte ohne Mühe bis zum Haus des Reichs und zu den Wallanlagen blicken: außer wenigen erhaltenen Gebäuden nur leergeräumte Trümmerflächen, auf denen nun Autos parkten und Gebrauchtwagenhändler sich niedergelassen hatten.
Ein ausbleibender Entwicklungsimpuls hatte zum einen damit zu tun, dass sich die Interessen der einzelnen Grundeigentümer nicht unter einen Hut bringen ließen, zum anderen, dass es keine Einigung über den Verlauf einer übergeordneten neuen Straße gab, die Teil des seit den 1930er-Jahren geplanten „Tangentenvierecks“ werden sollte.
Nachdem sich schließlich die Planung der Baubehörde, der sogenannte „Teilring“, durchgesetzt hatte, der eine geradlinige Verlängerung des Breitenwegs etwa bis zur im Krieg zerstörten Rembertikirche und von dort mit einer Rechtskurve weiter durchs Ostertor bis zur neu geplanten Ostbrücke vorsah, konnte mit den konkreten Planungen begonnen werden.
Östlich des bereits 1951 vierspurig ausgebauten Herdentorsteinwegs war links und rechts des verlängerten Breitenwegs, der bald Rembertiring heißen sollte, ein modernes Quartier vor allem mit Büro- und Geschäftsnutzungen als City-Erweiterung geplant. Nachdem man seitens der Stadtplanung zunächst an eine traditionelle Blockrandbebauung gedacht hatte, entschied man sich schließlich nach einem Konzept von Baurat Karl Nielsen für eine moderne „aufgelockerte“ Lösung.
Auf einem Modellfoto aus dem Planungsamt, das Gipsklötzchen auf einem alten Katasterplans zeigt, die die Verteilung der Baumassen simulieren, erkennt man das gewählte Grundprinzip, aber auch den Wandel gegenüber der ursprünglichen Bebauungsstruktur. Klar wird zudem, wie es zu der ungewöhnlichen Größe des Bremer Bahnhofsplatzes kam. Ins Auge springen drei geplante Hochhäuser als „städtebauliche Dominanten“: das spätere Behörden- bzw. Tivoli-Hochhaus am Bahnhofsplatz, das spätere Siemens-Hochhaus und das nicht realisierte Hillmann-Hochhaus. Die beiden gebauten sollten Bremens erste Bürohochhäuser werden.
Diese Planung wurde von der Baubehörde in Zusammenarbeit mit dem Architekten Max Säume und der gerade gegründeten Bremer Hochbau GmbH als Bauträger weiter konkretisiert. Letztere war ein Unternehmen der Morschel-Gruppen. Mit dem damals knapp 40-jährigen Unternehmer-Architekten Th. Siegfried A. Morschel verbindet sich eine beeindruckende, in den Zeiten des bundesrepublikanischen „Wirtschaftswunders“ nicht ganz untypische Aufstiegsgeschichte.
Als 20-jähriger Werkassistent fing der gebürtige Düsseldorfer 1940 bei den Bremer Focke-Wulf-Werken an und bewährte sich bald bei größeren Bauprojekten für das Reichsluftfahrtministerium in Posen und Kassel. Nach dem Krieg stieg er aufgrund seiner Erfahrungen im Industriebau bald zum Hausarchitekten der Bremer Stadtwerke auf. Mit seinem Architekturbüro Morschel, Henke, Hodde engagierte er sich zudem im Wohnungsbau und gründete Mitte der 1950er-Jahre die Wohnungsbaugesellschaft „Bremer Bau-Union“, die in den Neubauvierteln Huchting, Neu-Schwachhausen und Leher Feld eine bedeutende Rolle spielte. Seit 1959 leitete Morschel seine vielfältigen, mit der Bremer Hochbau GmbH um eine weitere Facette ergänzten Aktivitäten von einem neuen Geschäftssitz aus: dem sechsgeschossigen SIMO-Haus am Ansgaritor.
Am Herdentor konnte der Bauträger in schwierigen Verhandlungen die Interessen der Grundeigentümer in das neue Bauvorhaben einbinden. Der notwendige Stellplatznachweis wurde mit der Planung zweier Parkhäuser gelöst. Fahrt nahm das Bauvorhaben auf, als es Morschel gelang, den Siemens-Konzern, der zunächst auf dem Hillmann-Grundstück bauen wollte, von einem Standortwechsel auf die andere Straßenseite zu überzeugen.
So konnte das Siemens-Hochhaus zum Herzstück einer Gesamtanlage werden, deren Bau am 18. September 1961 mit dem ersten Spatenstich begonnen wurde. Das nach einem Entwurf von Max Säume ausgeführte repräsentative 16-geschossige Gebäude übertraf mit 64 Metern Höhe das benachbarte ebenfalls 16-stöckige Tivoli-Hochhaus aufgrund des aufgesetzten Technikgeschosses bei dem ersten vollklimatisierten Büroturm Bremens.
Dass das Siemens-Hochhaus erst 1965, zwei Jahre nach dem Tivoli-Hochhaus, fertig wurde, lag an der Komplexität der Gesamtanlage. Das Hochhaus war nämlich nicht als Solitär geplant, sondern als Teil einer Gebäudegruppe, zu der auch ein achtgeschossiges Bürohaus am Herdentorsteinweg und ein sechsgeschossiges an der Contrescarpe gehörten. Diese drei Bauten wurden mit zweigeschossigen Ladenzeilen zusammengebunden. Durch Passagen entstand ein differenziert gestalteter Umraum. Eine Besonderheit bot eine unterirdische Versorgungsstraße, die vom Rembertiring aus kreisförmig unter dem Baukomplex verlief. Dadurch konnte die Straße Auf der Brake noch vor der Söge- und der Obernstraße zu einer Fußgängerzone ausgebaut werden. An ihrer Ostseite entstand ein Parkhaus mit einem Mantelbau, der unten Läden und Lokale und darüber Büroflächen aufnahm.
Für Morschel war das neue Herdentorquartier der Höhepunkt seiner bisherigen steilen Laufbahn. In einer zu seinem 25-jährigen Arbeitsjubiläum herausgegebenen Publikation heißt es: „Drei Hochhäuser gaben dem Großprojekt die Konturen, das Profil, das als Ankündigung eines neuen Bremens im Zeichen der Großstadtarchitektur von heute verstanden sein wollte.“
Ähnlich äußerte sich auch der einflussreiche SPD-Politiker Richard Boljahn beim Richtfest des Tivoli-Hochhauses. Bremen sei, meinte er, bisher nur seiner Einwohnerzahl nach Großstadt gewesen, mit diesen Bauten nun aber auch städtebaulich. Und Morschel prophezeite, das moderne aufgelockerte Erscheinungsbild, das gerade am Herdentor entstehe, werde sich in einiger Zeit wie ein Band bis zur Ostbrücke fortsetzen. In der Tat konnte die Morschel-Gruppe in den folgenden Jahren noch an der Nordseite des Rembertirings ein Gebäude für den Bildungssenator, ein Hochhaus mit Eigentumswohnungen, ein Studentenwohnheim und eine Altenwohnanlage verwirklichen.
Zudem präsentierte Morschel 1965 ein Modell, dass das Projekt eines Behördenhochhauses am Rembertikreisel zeigte. Ein Projekt, das, ebenso wie das Hillmann-Hochhaus, schließlich scheiterte, worüber auf dieser Seite schon berichtet wurde. Mit der Stagnation im Wohnungsbau und dem Ende von Großprojekten wie der Mozarttrasse sank in den 1970-ern auch allmählich Morschels Stern. So blieb der Komplex um das Siemens-Hochhaus sein wohl bedeutendstes Projekt. Allerdings konnte die Gebäudegruppe städtebaulich die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen. Durch die großen Verkehrsschneisen von fußläufigen Wegverbindungen abgeschnitten, entwickelte sich das Umfeld des Hochhauses nach und nach zu einer Problemzone.