Vor 70 Jahren stellten GIs fest, dass der Engelbrechten-Sarkophag im Bleikeller leer war / Ein Schelmenstück, das 1824 inszeniert und später geheimgehalten wurde

Auf der Suche nach einem Waffenversteck inspizierten US-Soldaten 1945 auch den Bleikeller. Fanden aber nichts, noch nicht einmal eine Leiche im Sarkophag des einstigen Kanzlers Georg von Engelbrechten. Und das, obschon den Besuchern stets versichert worden war, im Sarkophag befinde sich seine sterbliche Hülle. Wilhelm Tacke hat in seinem Bleikeller-Buch die Spur bis 1824 zurückverfolgt. Damals wurde das Schelmenstück inszeniert – und das Märchen noch zum Besten gegeben, als die Wahrheit längst bekannt war.

Sarkophag EngelbrechtenDen Deutschen konnte man nicht trauen. Wer wusste schon, ob nicht heimlich Widerstand organisiert wurde? In den ersten Wochen und Monaten nach der Besetzung Bremens blieben die amerikanischen Soldaten äußerst argwöhnisch. Die verheerende Explosion im Polizeipräsidium schien die schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen. Mehrere Dutzend Menschen, darunter vier GIs, kamen am 4. Juni 1945 ums Leben, als eine gewaltige Detonation das wuchtige Gebäude erschütterte. Ein Sabotageakt? Das Werk einer NS-Untergrundorganisation?

Nach der Explosion herrschte eine extrem angespannte, nervöse Stimmung unter den Amerikanern. Erhöhte Aufmerksamkeit war geboten, allenthalben suchten US-Soldaten nach geheimen Waffenlagern. Nach Aussage des damaligen Küsters auch im Bremer Dom – genauer gesagt: im Bleikeller. War nicht ein Sarkophag ein hervorragendes Waffenversteck? Im Visier: der steinerne Sarkophag des verblichenen Kanzlers Georg von Engelbrechten, ehemals Verwaltungschef der schwedischen Herzogtümer Bremen und Verden.

Doch der böse Verdacht bestätigte sich nicht. Als die Amerikanern einen Blick in den Sarkophag warfen, stellten sie fest, dass er leer war. Eine Erkenntnis, die für ein Höchstmaß an Verwirrung unter den Dombediensteten sorgte. War den Besuchern des Bleikellers doch stets versichert worden, im Sarkophag lägen die sterblichen Überreste des einstigen Kanzlers.

So war es früher natürlich auch gewesen. Freilich wurde die letzte Ruhe des Kanzlers knapp 100 Jahre nach seinem Tod empfindlich gestört.

Die posthumen Irrwege des Kanzlers begannen 1822

Im Alter von 71 Jahren war Georg von Engelbrechten im Februar 1730 gestorben und auf Betreiben seiner Frau im Dom beigesetzt worden. Und zwar im Erskineschen Grabgewölbe, so benannt nach dem gleichnamigen Adelsgeschlecht, für das es 1658 im vorderen Teil des Doms als Familiengruft angelegt worden war.

Von wegen ewige Ruhe: Georg von Engelbrechten hatte ein turbulentes Nachleben. Foto: Frank Hethey

Von wegen ewige Ruhe: Georg von Engelbrechten hatte ein turbulentes Nachleben.
Foto: Frank Hethey

Die posthumen Irrwege des Kanzlers begannen, als das Grabgewölbe 1822 zugeschüttet wurde. Der arg verweste General Erskine als „Erstbezieher“ und mehrere Kinderleichen fanden auf dem Klosterhof ihre nunmehr wirklich letzte Ruhestätte.

Anders der wohl erhaltene Georg von Engelbrechten. Er wurde in den Bleikeller geschafft, der sich damals in der Ostkrypta unter dem Altarbereich befand. Und teilte damit wieder eine gemeinsame Grabstätte mit seiner Ehefrau, der im April 1734 dahingegangenen Maria von Engelbrechten. Ursprünglich hatte sie selbstredend an der Seite ihres Gemahls im Erskineschen Grabgewölbe gelegen, war aber bereits 1812 in den Bleikeller verlegt worden.

Angeblich, weil es ein französisches Dekret so wollte.

Bremen war damals Bestandteil des napoleonischen Empires, und eines der zahlreichen Reformgesetze erlaubte Bestattungen nur noch außerhalb der Stadtmauern, damit auch nicht mehr in den Kirchen. Doch kann dieses Dekret tatsächlich mit ihrem Umzug zu tun haben, wie Wilhelm Tacke in seinem Bleikeller-Buch behauptet? Wirklich stichhaltig ist das nicht. Schon allein deshalb, weil die Regelung nur für jüngst Verstorbene galt, nicht für längst Verewigte. Und warum wurde die Witwe Engelbrechten nur innerhalb des Doms umgebettet und nicht außerhalb der Stadt beerdigt? Schleierhaft auch, dass man ihren Gatten und die anderen Toten in Ruhe ließ. Warum hätte das französische Dekret nur in ihrem Fall, aber bei keinem anderen Anwendung finden sollen?

Die Ostkrypta sollte „nutzbar“ gemacht worden

Auch die Kanzlergattin wurde ihrer wahren Identität beraubt: Ruhestätte der Maria von Engelbrechten im heutigen Bleikeller. Foto: Frank Hethey

Auch die Kanzlergattin wurde ihrer wahren Identität beraubt: Ruhestätte der Maria von Engelbrechten im heutigen Bleikeller.
Foto: Frank Hethey

Lassen wir dahingestellt, warum ihr Leichnam schon vor dem seinen den Weg in den Bleikeller fand. Wichtiger ist: Nach nur anderthalb Jahren stand ein erneuter Umzug auf dem Programm. Diesmal, weil die Domgemeinde die Ostkrypta als Lagerplatz vermieten wollte. Ein Umstand, der bis heute diskret unter den Tisch gekehrt wird. Auf der Homepage des Doms heißt es dazu sybillinisch, die Ostkrypta sei „nutzbar“ gemacht worden. Eine Wortwahl, die sich bereits in alten Dokumenten findet. Die profane Wahrheit über die neue Nutzung des Sakralbaus: Von 1823 bis 1889 verwendeten Kaufleute die Krypta für ihre Zwecke. Meist stapelten sich Weinfässer unter dem Altar, eine Zeitlang auch edle Tropfen aus dem Hause der bekannten Weinfirma Ludwig von Kapff.

Als Ausweichquartier für die nunmehr heimatlosen Bleikeller-Mumien wurde die benachbarte Kohlenkammer hergerichtet: Das Gewölbe erhielt einen Steinfußboden, als Lichtquelle dienten vergitterte Fenster. Es liegt auf der Hand, dass es dabei nicht allein um eine behagliche Ruhestätte ging. Sondern auch darum, ein vorzeigbares Umfeld für die mumifizierten Leichname zu schaffen. Erfreuten sich die Leichen doch schon damals großer Popularität. Wer Bremen einen Besuch abstattete, ließ sich gern in den Bleikeller führen.

Für die Gäste ein makabrer Nervenkitzel, für die Domgemeinde ein einträgliches Geschäft – denn unentgeltlich war eine Besichtigung des weithin bekannten Gruselkabinetts natürlich nicht zu haben. Der Bleikeller also als etablierte Touristenattraktion, weshalb trotz des Umzugs in die vormalige Kohlenkammer der „Markenname“ beibehalten wurde.

Mit der ungestörten Totenruhe war es für das Ehepaar Engelbrechten indes schon nach dem Umzug in den alten Bleikeller vorbei gewesen: Wer dort landete, wurde auch zur Schau gestellt. Die verwitwete Frau von Engelbrechten seit ihrer Ankunft 1812 offenbar noch unter ihrem wahren Namen. Ebenso der Gemahl, als er zehn Jahre später zu ihr stieß. Schon damals lag er also nicht mehr in seinem Prunksarkophag. Als die untote Gesellschaft im Sommer 1823 in die vormalige Kohlenkammer übersiedelte, wurde Engelbrechten zwar wieder in den Sarkophag gebettet, der „als Zierde“ natürlich auch den neuen Bleikeller bereichern sollte. Allerdings währte der eben erst wiederhergestellte ewige Frieden nur kurze Zeit. Teilte der damalige Bauherr Gerhard Meyer doch im April 1824 auf einem im Sarkophag hinterlegten Bekennerschreiben mit, man habe den „Sarg mit der Leiche des Kanzlers aus demselben aber herausgenommen und zu den übrigen, gezeigt werdenden Leichen gesetzt“.

Abenteuerlich wurde es, als man dem Ehepaar Engelbrechten neue Namen gab  

Wirklich pietätvoll war das natürlich nicht. Aber auch keineswegs unzulässig, sondern eine gängige Praxis, an der sich niemand stieß.

Eher lieblos und sparsam: die Informationen am Engelbrechten-Sarkophag (Aufnahme vom August 2014). Foto: Frank Hethey

Eher lieblos und sparsam: die Informationen am Engelbrechten-Sarkophag (Aufnahme vom August 2014).
Foto: Frank Hethey

Abenteuerlich wurde es erst, als man den Eheleuten von Engelbrechten vorsätzlich eine neue Identität andichtete. Bei seiner Visite habe er unter anderem einen englischen General und eine schwedische Gräfin zu Gesicht bekommen, notierte der Hamburger Theaterdirektor Friedrich Ludwig Schmidt im Juni 1826. Ein erstaunlicher Befund, denn davon war vorher nie die Rede gewesen. Sogar in einem eher privaten Schriftstück von 1828 führt Meyer noch völlig korrekt unter den Bleikeller-Mumien das Ehepaar Engelbrechten auf – dafür aber keinen General und keine Gräfin.

Doch warum die Vertuschungsaktion? Warum hielt Meyer es nicht einfach mit der Wahrheit? Anscheinend konnte der Bauherr der Versuchung nicht widerstehen, auch die Kanzlerleiche dauerhaft zu präsentieren. Wäre er bei der Wahrheit geblieben, hätte er zugeben müssen, dass der Sarkophag nur noch eine leere Hülle war. Anscheinend ein peinliches Eingeständnis, weshalb Meyer sowohl dem Küster als auch dem Kirchendiener kurzerhand eine neue Sprachregelung auferlegte. Bei Führungen sollte es künftig heißen, Engelbrechten befinde sich nach wie vor in seinem Sarkophag, seine Leiche dagegen sollte als englischer General ausgegeben werden, später wurde daraus ein Major. Wohl deshalb deponierte Meyer im leeren Sarkophag eine Botschaft an die Nachwelt und verzichtete auf einen Vermerk in offiziellen Schriftstücken. Als habe er sich mit seiner Beichte ein wenig Seelenfrieden verschaffen wollen.

Rätselhaft indessen, warum auch die Witwe Engelbrechten eine neue Identität als „schwedische Gräfin“ erhielt. Bleikeller-Experte Tacke vermutet, um die eigentlich unzulässige Umbettung innerhalb des Doms zu kaschieren. Eine kleine Finte, um die Franzosen an der Nase herumzuführen. Wirklich überzeugend ist das freilich nicht. Gibt es doch keinen Hinweis, dass sie bereits ab 1812 als Gräfin tituliert wurde. Erstmals „aktenkundig“ wurde die falsche Gräfin erst durch den Bericht des Theaterdirektors Schmidt von 1826. Oder sollte Meyer sich gedacht haben, wenn schon der Gemahl eine neue Identität erhält, warum nicht auch die Gattin? Und warum nicht gleich eine Rangerhöhung vornehmen, aus der Adelsfrau eine schwedische Gräfin machen? Die drei Kronen auf den Sargbeschlägen ließen sich trefflich als die drei Schwedenkronen deuten.

Die Wahrheit als Staatsgeheimnis 

Eigentlich merkwürdig, dass der Schwindel nicht schon damals aufflog. Gab es doch plötzlich neun statt vormals acht Leichen im Bleikeller. Die Mär pflanzte sich von einer Generation zur anderen fort, über 160 Jahre lang wurde sie verbreitet und sogar noch ausgeschmückt. Selbst die erstaunliche Entdeckung der amerikanischen Soldaten geriet ganz offenbar in Vergessenheit. Mit dem Ergebnis, dass helle Aufregung herrschte, als im September 1966 das Geheimnis um den leeren Sarkophag mehr oder weniger zufällig durch die Mitteilung einer Putzfrau gelüftet wurde.

Der eigentliche Skandal war, dass man die Entdeckung als Staatsgeheimnis behandelte. Die Mitwisser wurden zur Verschwiegenheit verpflichtet, unter keinen Umständen sollte die Wahrheit ans Licht kommen. Von nun an hatte die Domgemeinde auch im übertragenen Sinne eine Leiche im Keller.

Erst die akribische Untersuchung von Wilhelm Tacke brachte Licht ins Dunkel. Nicht nur über den wenig respektvollen Umgang mit dem Ehepaar Engelbrechten, sondern auch über mancherlei andere Schauermärchen. Weil die frühere Kohlenkammer – der zweite Bleikeller – für den Bau des Dom-Museums gebraucht wurde, stand 1984 ein neuerlicher Umzug auf der Tagesordnung, nunmehr in den Keller eines unmittelbar benachbarten Gebäudes. Dort sind die Mumien noch heute zu sehen – jetzt allerdings unter korrekter Namensgebung.

von Frank Hethey

Seit 1823 diente die frühere Kohlenkammer als neuer Bleikeller. Der Sarkophag des Kanzlers Georg von Engelbrechten war als Blickfang im rückwärtigen Teil platziert. Seine Leiche befand sich entgegen anderslautender Bekundungen nicht im Sarkophag, sondern im Sarg vorne rechts. Über dem Sarkophag hingen zu Testzwecken tote Kleintiere. Quelle: Privat

Seit 1823 diente die frühere Kohlenkammer als neuer Bleikeller. Der Sarkophag des Kanzlers Georg von Engelbrechten war als Blickfang im rückwärtigen Teil platziert. Seine Leiche befand sich entgegen anderslautender Bekundungen nicht im Sarkophag, sondern im Sarg vorne rechts. Über dem Sarkophag hingen zu Testzwecken tote Kleintiere.
Quelle: Privat

Von Anbiet bis Zuckerklatsche

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