Ein Blick in die Geschichte (104): Foto von 1895 zeigt, wie es vor dem Bau des Polizeihauses aussah
Schon fast als natürliche Erscheinung nimmt man das gewaltige Polizeihaus am Wall hin. Es kommt einem kaum in den Sinn, dass der historistische Monumentalbau selbst einmal ein Neubau war. Wie es dort vorher aussah, zeigt diese um 1895 entstandene Aufnahme.
Einen besonderen Stellenwert als gesellschaftlicher Treffpunkt hatte viele Jahrzehnte lang das helle, zweigeschossige Gebäude des „Vereins Union für edle Geselligkeit“, kurz: Union. Ganz schwach ist über den drei mittleren Fenstern der Schriftzug „Union“ zu erkennen, in der Blendnische darunter standen sozusagen als bürgerliches Glaubensbekenntnis die Worte „Streben ist Leben“. Der 1795 gegründete Verein war ein typisches Produkt der Spätaufklärung, junge Kaufleute trafen sich in ungezwungener Runde zum gemeinsamen Lesen, Debattieren, Spielen und Musizieren.
Seit 1805 hatte der Verein seinen Sitz in einer Gaststätte an der Ostertorswallstraße. Parallel zum Wall verlaufend, reicht sie heute nur noch bis zum Polizeihaus, doch damals mündete sie in der Ostertorstraße. Weil die Mitgliederzahl des Vereins nach einem kurzzeitigen Verbot während der „Franzosenzeit“ rasant anstieg, wurden die alten Räumlichkeiten bald zu eng, die „Union“ mietete darum das rückwärtige Nachbargebäude am Wall und kaufte es 1817.
Doch die erweiterten Kapazitäten halfen nicht auf Dauer, 1835 wurde ein Neubau nach Plänen des renommierten Architekten Jacob Ephraim Polzin errichtet – das Gebäude, das auf dem Foto zu sehen ist.
Fassade am Wall nur die Schauseite
Zunächst möchte man kaum glauben, dass sich hinter diesen Mauern bis 1878 der größte Konzertsaal der Stadt verbarg. Erklärlich wird dieser Umstand erst, wenn man sich klarmacht, dass die Fassade am Wall nur die repräsentative Schauseite eines ganzen Gebäude-Ensembles war.
Auf einem alten Stadtplan von 1865 ist deutlich zu erkennen, wie weitläufig das Domizil der „Union“ wirklich war:
Es reichte bis zum alten Vereinssitz an der Ostertorwallstraße, ein weiterer Flügel grenzte als Eingangsbau an die Ostertorstraße. Wahrlich reichlich Platz, um nicht nur einen mächtigen Saal, sondern auch noch diverse Nebenräume unterzubringen.
Das klassizistische Bauwerk entsprach dem damaligen Zeitgeschmack, als kleine Extravaganz kamen im Obergeschoss „leicht ägyptisierende“ Flachgiebel an den Fenstern hinzu.
Interessant auch das Schicksal des benachbarten Eckgebäudes, eines Wohn- und Geschäftshauses, das erst 1892 als Nachfolgebau eines senatorischen Wohnhauses von 1817 fertiggestellt worden war. Eine allzu lange Lebensdauer war diesem Gebäude freilich nicht beschieden, musste es doch mitsamt dem „Union“-Gebäude bereits gut ein Jahrzehnt später dem neuen Polizeihaus weichen.
Damit waren auch die 1899 gehegten Erweiterungspläne der „Union“ vom Tisch, 1903 bezog der Verein einen historistischen Neubau an der Wachtstraße/Ecke Tiefer. Im Nachhinein keine glückliche Entscheidung, denn dessen Geschichte endete 1944 im Bombenhagel.
von Frank Hethey