Vor 50 Jahren
Die deutsche Luftfahrtindustrie ist von einem schweren Schlag getroffen worden: Nur einen Kilometer vom Bremer Herstellerwerk VFW-Fokker entfernt, stürzte der erste Prototyp des ersten Düsenverkehrsflugzeuges, der zweistrahlige Kurzstreckenjet VFW 614, gestern nachmittag aus 3300 Meter Höhe am Rande des Neuenlander Feldes ab. Die Maschine bohrte sich vier Meter tief ins Erdreich, explodierte und wurde dabei völlig zerrissen. (WESER-KURIER, 2. Februar 1972)
Hintergrund
Wie ein „riesiger Kugelschreiber“ sei ihr das abstürzende Flugzeug erschienen, sagte eine Augenzeugin aus Kattenesch. Im Tempo einer Rakete sei die Maschine heruntergekommen – so schnell, dass sie noch nicht einmal die Tragflächen wahrgenommen habe. Sekundenbruchteile erschütterte eine gewaltige Detonation das Umfeld des Flughafens, ein schwarzer Rauchpilz stieg von der Absturzstelle unweit der Wolfskuhle empor.
Sechs Jahre nach dem Convair-Absturz, bei dem alle 46 Menschen an Bord den Tod gefunden hatten (mehr dazu hier), hielt abermals ein schweres Flugzeugunglück die Menschen in Atem. Diesmal handelte es sich aber nicht um einen Linienflug, sondern um einen Testflug des ersten Prototyps der VFW 614. Die beiden Testpiloten Leif Nielsen und Jürgen Hammer konnten sich mit dem Fallschirm retten. Weniger Glück hatte Hans Bardill: Aus ungeklärter Ursache öffnete sich der Fallschirm des 39-jährigen Schweizers nicht.
Die Unglücksmaschine hätte im April bei der Luftfahrtschau in Hannover einem internationalen Publikum vorgestellt werden sollen. Ursprünglich war das Flugzeug als „Buschflugzeug“ konzipiert worden, daher das besondere Charakteristikum: die beiden Triebwerke saßen auf und nicht unter den Tragflächen, damit es auch unbefestigte Pisten benutzen konnte. Doch von der Idee des „Buschfliegers“ nahm man wieder Abstand, seit 1966 war eine robuste Maschine für Kurzstrecken das erklärte Ziel.
Der Erstflug am 14. Juni 1971 verlief reibungslos. Die Presse begeisterte sich für den „Düsenhit aus Bremen“. Immerhin das erste Strahlpassagierflugzeug, das nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik entwickelt wurde. Große Hoffnungen verknüpften sich mit der VFW 614, laut „Spiegel“ sollte es als „eine Art Düsennachfolger“ der legendären amerikanischen DC-3 den Markt erobern.
Nach Rechnung der Herstellerfirma mussten mindestens 175 Maschinen vom Band laufen, um die staatlichen Entwicklungskosten in Höhe von 600 Millionen Mark wieder hereinzuholen. Doch die Realität blieb weit hinter den hoch gesteckten Erwartungen zurück. Vom Beginn der Serienfertigung 1975 bis zum Produktionsende 1977 wurden gerade einmal 16 Maschinen ausgeliefert, davon drei für die Bundeswehr.
Inwieweit der Absturz vom 1. Februar 1972 dem Renomee schadete, lässt sich schwer ermessen. Zumindest war das Unglück kein gutes Omen. Als Absturzursache kristallisierte sich relativ rasch ein Flattern im Höhenleitwerk heraus. Am Absturztag war das Flugzeug wegen vorheriger Vibrationen mit Schwingungsdämpfern ausgestattet worden. Zuvor hatte stets gedrosselte Geschwindigkeit das Problem gelöst, diesmal nicht – die Maschine geriet außer Kontrolle, Cheftestpilot Nielsen befahl den Ausstieg.
Zu diesem Zeitpunkt befand sich die Maschine schon im Sturzflug, nur mit Mühe konnten erst Hammer und dann Nielsen das Flugzeug verlassen. Das gelang auch noch Bardill, doch der zweifache Familienvater zog die Reißleine seines Fallschirms nicht mehr. Eine Theorie besagt, er habe das Bewusstsein verloren. Eine andere, er sei erst kurz vor dem Aufprall aus der Maschine herausgekommen. Knapp sechs Jahre zuvor hatte Bardill in einer ähnlichen Situation noch überlebt, damals war er sicher mit seinem Fallschirm gelandet.
Bardill war nicht der erste Testpilot, der in Bremen ums Leben kam. Das gleiche Schicksal ereilte im September 1927 den damals 32-jährigen Georg Wulf, Chefeinflieger des Bremer Flugzeugbauers Focke-Wulf (mehr dazu hier).