Der Arzt Rudolf Hess gab der Kinderklinik ihren Namen – in der NS-Zeit als „Nicht-Arier“ drangsaliert

Wenig erbaulich war, was das Landesamt für Wiedergutmachung dem Kinderarzt Rudolf Hess im Juni 1963 mitzuteilen hatte. Sein Antrag auf Entschädigung wegen Haft in einem Zwangsarbeiterlager werde „noch als unerledigt geführt“, heißt es in dem Schreiben. Gestellt hatte Hess den Antrag im März 1950, nun also die Reaktion der Behörde. Um „unnötige Verwaltungsarbeit zu ersparen“, wurde Hess „höflich gebeten“, seinen Antrag zurückzuziehen. Sonst sähe sich das Landesamt gezwungen, „nach Aktenlage zu entscheiden, wobei mit einem ablehnenden Bescheid zu rechnen wäre“.

Ärgern konnte sich Hess über den Brief nicht mehr. Die wenig sensible Mitteilung erreichte ihn post mortem, er war bereits ein knappes Jahr zuvor gestorben. Statt seiner antwortete denn auch seine Witwe Else Hess mit einem kurzen, handgeschriebenen Hinweis auf den Tod ihres Mannes. Dass der renommierte Mediziner so kurz nach seinem Ableben schon so gründlich vergessen war, lag auch ein bisschen an ihm selbst – an seiner geradezu legendären Bescheidenheit, jegliches Aufheben um seine Person war ihm zuwider. Als der Leiter der Kinderklinik am 31. Dezember 1954 in den Ruhestand wechselte, verbreiteten die Medien auf seinen ausdrücklichen Wunsch nur eine dürre Meldung, laut WESER-KURIER verbat er sich jede Würdigung in der Öffentlichkeit.

Dabei wäre ein formvollendeter Nachruf mehr als angemessen gewesen. Der aus Worms stammende Mediziner war im April 1928 nach Bremen gekommen. Als städtischer Kinderarzt und leitender Arzt der Städtischen Krankenanstalt sollte der damals 42-Jährige die kränkelnde Gesundheitsversorgung der Jüngsten auf Vordermann bringen. Als vormaliger Leiter der Kinderklinik in Essen und des Säuglingskrankenhauses in Mannheim verfügte Hess über reichlich Erfahrung und Durchsetzungsvermögen. Es verging kaum ein Jahr, da begann 1929 auch schon der Bau der neuen Kinderklinik an der Friedrich-Karl-Straße.

Die Demokratie wankte

Freilich geriet die parlamentarische Demokratie zunehmend ins Wanken, die Weltwirtschaftskrise verschärfte die instabile politische Lage in Deutschland. Von den Verhältnissen profitierten die extremen Parteien, am rechten Rand tauchten wie aus dem Nichts die Nationalsozialisten auf, zuvor nur eine völkische Splitterpartei, die außerhalb Bayerns keine große Bedeutung gehabt hatte. Innerhalb kürzester Zeit zog die NSDAP in die Länderparlamente ein, bei der Bremer Bürgerschaftswahl vom 30. November 1930 erreichte die Hitlerpartei 25,4 Prozent und wurde damit zweitstärkste Kraft hinter der SPD.

Verlor wegen „nicht arischer Abstammung“ seinen Job als Leiter der Bremer Kinderklinik: der beliebte Mediziner Rudolf Hess.
Quelle: Staatsarchiv Bremen

Bereits wenig mehr als zwei Jahre später kollabierte die Weimarer Republik, am 30. Januar 1933 wurde Hitler zum Reichskanzler ernannt, kurz nach den Reichstagswahlen vom 5. März 1933 war es auch in Bremen vorbei mit der Demokratie. Wie ernst es die neuen Herren mit ihrer völkischen Gesinnung und dem damit eng verbundenen Antisemitismus meinten, zeigte sich bereits mit dem reichsweiten Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933.

Nur sechs Tage später folgte das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ – eine irreführende Bezeichnung, weil das Berufsbeamtentum in der verhassten „Systemzeit“ ja keineswegs abgeschafft war. Was damit wirklich bezweckt wurde, geht viel deutlicher aus dem ersten Satz im Gesetzestext hervor, in dem von der „Wiederherstellung des nationalen Berufsbeamtentums“ die Rede ist. Mit anderen Worten, im Zuge der „nationalen Revolution“ wollte sich das Dritte Reich vermeintlich unzuverlässiger Staatsdiener entledigen. Als solche galten nicht nur politische Gegner, sondern auch Beamte „nicht arischer Abstammung“.

Das war der Hebel, um den allseits geschätzten Kinderarzt aus dem Amt zu werfen. Zwar waren weder er selbst noch seine Eltern jüdischen Glaubens. Seine Mutter war aber eine geborene Jüdin und erst im Säuglingsalter evangelisch getauft worden, das reichte für ein Berufsverbot. Hieß es doch in der ersten Verordnung zur Durchführung des neuen Gesetzes: „Als nicht arisch gilt, wer von nicht arischen, insbesondere jüdischen Eltern oder Großeltern abstammt. Es genügt, wenn ein Elternteil oder ein Großelternteil nicht arisch ist.“

Mit einem Federstrich beendete Senator Erich Vagts, vormals deutsch-nationaler Fraktionschef in der Bürgerschaft und nach dem Zweiten Weltkrieg bis August 1945 Regierender Bürgermeister von Bremen, am 29. September 1933 die Beamtenlaufbahn des Klinikleiters. In seiner Funktion als Kommissar für das Gesundheitswesen erklärte er, Hess sei mit sofortiger Wirkung beurlaubt und zum Jahresende entlassen. Vergebens protestierten seine Chefarztkollegen und der Präsident des Landesgesundheitsamts gegen die Zwangspensionierung.

Hess musste nun sehen, wo er blieb, zumal er keinerlei Pensionsansprüche hatte. Mit einer eigenen Praxis suchte er sich über Wasser zu halten. Angeblich klappte das recht gut, weil die Bremer treu und fest zu Hess hielten. Laut Karl Stoevesandt, ein Mediziner wie Hess und mit ihm durch den christlichen Glauben eng verbunden, scherte sich die Bevölkerung wenig um rassistische Diffamierungen des beliebten Kinderarztes. Doch das ist offenbar nur die halbe Wahrheit. Zumindest in den Anfangsjahren liefen Hess die Patienten weg. Sein Anwalt wies im November 1951 auf massive Verdienstausfälle in den Jahren 1934 und 1935 hin. Entstanden sei der Einkommensverlust dadurch, „daß viele seiner Privatpatienten gleich nach der Machtübernahme der Privatpraxis fernblieben“.

Wie sehr Hess ausgegrenzt wurde, ist auch seinen eigenen Äußerungen zu entnehmen. Über die tiefe Kluft, die der Ärzteführer weit über die Ariergesetze hinaus gezogen habe, kämen viele Kollegen nicht mehr hinweg, klagte Hess im August 1934. Als besonders bitter empfand es Hess, wenn frühere Weggefährten ihn nicht mehr kennen wollten. „Was einem da im nächsten Freundeskreis begegnet, will man in der Öffentlichkeit nicht auch noch mal durchmachen.“ Für einen durchaus national gesinnten Mann wie Hess eine doppelt schwere Prüfung. Hatte er sich doch bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs als Freiwilliger gemeldet, nach der Niederlage wiesen ihn die Franzosen aus dem Elsass aus, weil er sich zu Deutschland bekannte. „Aber damals hat keiner gedacht, daß man mal das Ausharren für Dütschland so bezahlen müsse“, schrieb er im September 1935.

Immerhin, ab 1936 erreichte sein Verdienst als frei praktizierender Kinderarzt wieder das Niveau seines vorherigen Beamtensalärs, ja überstieg es sogar. Erst jetzt scheint er wieder mehr Zuspruch bekommen zu haben. Dass die Nürnberger Gesetze von 1935 ihn als „Mischling ersten Grades“ abstempelten, tat seiner Popularität augenscheinlich keinen Abbruch. Obschon „jüdische Mischlinge“ (auch „Halbjuden“ genannt) spätestens seit 1941 vermehrt Repressalien fürchten mussten, blieb Hess vorerst unbehelligt.

Ins Lager Farge verschleppt

Seine persönliche Situation verschärfte sich erst, als das Regime gegen Ende des Krieges zunehmend nervös wurde. Schon länger hatten besonders radikale NS-Parteikreise gefordert, „jüdische Mischlinge“ wie „Volljuden“ zu behandeln und in den Osten zu deportieren. Ab März 1944 verpflichtete die Arbeitsverwaltung „jüdische Mischlinge“ zu schwerer körperlicher Zwangsarbeit. Anscheinend war das Ergebnis aber nicht zufriedenstellend, im Oktober 1944 übernahm die Gestapo die Aufgabe.

Und das hatte Folgen für Hess: Am 8. Oktober 1944 wurde der 58-Jährige verhaftet und ins Arbeitserziehungslager Farge verschleppt. Zu seinem Glück wurde dem eher schmächtigen Mann bescheinigt, für schwere körperliche Arbeit ungeeignet zu sein, weshalb er nach zehn Tagen wieder entlassen wurde. Allerdings unter Auflagen, fortan musste er sich einmal monatlich bei der Gestapo melden. „Für den Rest der Kriegszeit unter Gestapo-Aufsicht“, schrieb Hess im August 1952. Im Widerspruch dazu steht die Angabe bei Stoevesandt, Hess habe durch Freundeshilfe entkommen können und sich in der Lüneburger Heide verstecken können.

Wie auch immer es sich damit verhalten mag, bereits unmittelbar nach Kriegsende nahm Hess am 24. Mai 1945 seine Arbeit als Klinikleiter wieder auf, kurz darauf wurde ihm der Beamtenstatus auf Lebenszeit zuerkannt. In seinem Nachruf erklärte der Arzt Hans-Rudolf Wiedemann, seine Gläubigkeit habe Hess gegen die Unbill des Dritten Reichs gewappnet, er sei zwar tief enttäuscht, aber nicht erbittert gewesen.

Bremen dankte ihm knapp vier Jahre nach seinem Tod: Seit Mai 1966 trägt die Kinderklinik als seine frühere Wirkungsstätte den Namen „Prof.-Hess-Kinderklinik“. Freilich nicht mehr lange, wenn es nach den Plänen des Klinikverbunds Gesundheit Nord (Geno) geht. Mit dem geplanten Neubau beginne eine neue Zeitrechnung, heißt es, fortan soll es nur noch ein „Kinderkrankenhaus Bremen“ geben. Dagegen formiert sich allerdings Protest vonseiten der Grünen und früherer Patienten, das letzte Wort ist noch nicht gesprochen.

Von den Nazis als Klinikleiter entlassen: der Kinderarzt Rudolf Hess.
Quelle: Staatsarchiv Bremen

75 Jahre Kriegsende

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