Englischstämmiger Bauherr verzierte sein Haus an der Wachmannstraße mit lateinischem Spruch und Fabeltier
Um meine Beiträge für Bremen History zu gestalten, muss ich oft zur Staats- und Universitätsbibliothek fahren. Meist nehme ich dann die Straßenbahn-Linie 6. Kurz nach dem Stern kommt man an der rechten Straßenseite am Haus Wachmannstraße 29 vorbei. Und irgendwann habe ich an dem Haus diese lateinische Inschrift entdeckt:
DEUM INSPECTOREM HABES
Sie befindet sich über dem Erker-Fenster der ersten Etage, ist in ein Spruchband eingelassen und umrahmt ein Fabelwesen. Meine Frage war: Was hat das zu bedeuten?
In den Bremer Adressbüchern ist das Haus Wachmannstraße 29 erstmals 1904 verzeichnet und als erster Bewohner der Kaufmann August James Boyes (1843 bis 1918), Kommission und Agentur in Eisen und Metallen, eingetragen.
Errichtet wurde das Haus ein Jahr davor: Anfang 1903 reichte der Bauunternehmer Seekamp zum Bauantrag eine Zeichnung ein, auf dem über dem Erkerfenster ein symbolischer Baum dargestellt war. Rund sieben Jahre später wurde ein Bauantrag zur Aufstockung des Erkers und zum Einbau eines Fensters in die Dachetage beim Bauamt eingereicht.
Das Fabeltier ist ein Greif
Bei dem Fabeltier, welches das Hauswappen vermutlich seit dem Umbau ziert, handelt es sich um einen Greif. Dieses Mischwesen aus Adler und Löwe ist als Wappentier in ganz Europa verbreitet und gilt als mythisches Schutztier zur Abwehr von Gefahren. Einem breiteren Publikum dürfte dieses Fabeltier durch den Hypogreif bei Harry Potter bekannt geworden sein, einer Mischung aus Pferd und Greif.
Was aber bedeutet der lateinische Spruch? Im Internet habe ich ein Foto gefunden, das ebenfalls diesen Spruch zeigt und nahezu identisch mit dem in der Wachmannstraße 29 ist. Es ist ein Fensterbild von einem Mausoleum in Oakland, Kalifornien, das drei Mitgliedern der Familie Boyes gewidmet ist.
Die Familie Boyes stammt ursprünglich aus England. Robert Boyes (1770 bis 1813) verließ England 1792 und wurde 1796 Bremer Bürger. Seinen Wohnsitz hatte er „Hinter Stephanikirchhof 28“. Dieses im Zweiten Weltkrieg zerstörte Haus soll die gleiche Inschrift aufgewiesen haben. Ich gehe davon aus, dass der Enkel August James Boyes, als er Greif und Spruch an seinem Haus Wachmannstraße 29 anbringen ließ, es nicht nur aus nostalgischen Gründen tat, sondern es als Aussage und Information gemeint hat. Das Hauswappen ist nicht das
Familienwappen der Boyes: Dies zeigt ein silbernes Andreaskreuz.
Das alles war mir absolut unbefriedigend und ich wandte mich an einen Altsprachler. Von ihm erfuhr ich, dass die Inschrift aus drei lateinischen Wörtern besteht: zwei Substantiven, einem Akkusativ des äußeren Objekts und einem prädikativen Akkusativ sowie einem Verb, dem Prädikat im Indikativ Präsens, 2. Person Singular. Wörtlich lautet die Übersetzung: Gott hast du als Wächter/Aufseher/Hineinseher/Beobachter.
GOTT HAST DU ALS BEOBACHTER
Hat die Familie Boyes ihr Hauswappen aus England mitgebracht?
Leider ist unklar, wie die Familie Boyes zu ihrem Hauswappen gekommen ist, noch wissen wir, welche Bedeutung sie ihm beigemessen hat und wissen nicht, ob sie es vielleicht schon aus England mitgebracht oder es erst in Bremen geschaffen wurde. Ob Deum inspectorem habes überhaupt gutes Latein ist, könnte man fragen. Das wissen wir nicht. Es ist in dieser Form nicht in der Antike verwandt worden. Das Hauswappen kann nur aus einer starken religiösen Überzeugung des Bauherrn angebracht worden sein. Vielleicht wollte er auch die Frömmigkeit von Passanten steigern und zugleich das Gute in der Welt vermehren.
Darf oder sollte man solch einen Spruch überhaupt öffentlich an seinem Wohnhaus anbringen? Religiöse Sprüche, wie „Gott ist bei dir“ sind aufmunternd, geben Hoffnung. Aber ein Gott, der dich ständig beobachtet, das könnte einigen Personen nicht ganz recht sein.
Eugen Roth hat auf die Dauerbeobachtung durch Gott in einem Gedicht (1948) in seiner witzigen Weise reagiert:
„Ein Mensch, der recht sich überlegt,
Dass Gott ihn anschaut unentwegt,
Fühlt mit der Zeit in Herz und Magen
Ein ausgesprochnes Unbehagen
Und bittet schließlich Ihn voll Grauen,
Nur fünf Minuten wegzuschauen.
Er wolle unbewacht, allein
Inzwischen brav und artig sein.
Doch Gott, davon nicht überzeugt,
Ihn ewig unbeirrt beäugt.“
Manchmal sagt man mehr scherzhaft: „Der liebe Gott sieht alles und bestraft die kleinen Sünden sofort.“ Und wirklich: Nascht man heimlich aus dem Marmeladenglas, so hat man anschließend einen Marmeladenfleck auf der Kleidung.
von Peter Strotmann