Spitta-Denkschrift von 1946 sah Ausdehnung Bremens vor
Im Herbst 1946 bekundete Bremen ernsthaftes Interesse an der Einverleibung etlicher Umlandgemeinden. Senator Theodor Spitta spielte das Ansinnen als bloße „Grenzberichtigung“ herunter.
Früher oder später würde Delmenhorst mit Bremen ganz zusammenwachsen, daran bestand für Senator Theodor Spitta nicht der geringste Zweifel. Sobald das geschehen sei, müsste es dann auf jeden Fall einverleibt und damit ein Teil von Bremen werden. Warum also nicht gleich Nägel mit Köpfen machen? Technisch und verwaltungsrechtlich sah Spitta keine Probleme, zumal bei einer Vereinigung auch eine „Einschränkung und Verbilligung des Verwaltungsapparates“ zu erwarten sei.
Das Plädoyer für die Einverleibung Delmenhorsts entstammt einer Denkschrift, die Spitta im Oktober und November 1946 verfasst hat. Um die Sache anschaulicher zu machen, wies der 73-jährige Justizsenator auf den überaus lebhaften Pendlerstrom hin, schon in Friedenszeiten habe der den „Character eines Vorortverkehrs“ gehabt. Wirtschaftlich gesehen bildeten beide Städte ohnehin eine Einheit.
Den Auftrag für die Denkschrift hatte Spitta am 17. Oktober 1946 von Bürgermeister Wilhelm Kaisen erhalten. Bremen legte darin seine Erweiterungswünsche bei der sich anbahnenden Wiederherstellung des Landes dar. Zuvor hatte die amerikanische Besatzungsmacht eine Ausdehnung des Landes Bremen bis nach Verden und Hoya in Aussicht gestellt. Eine Perspektive, die bei den Bremern von Anfang an auf wenig Gegenliebe stieß. Durch die Einbeziehung großer ländlicher Gebiete würde Bremen seinen Charakter als Stadtstaat einbüßen, warnte Spitta. Ferner sei zu befürchten, dass die von Oldenburg und Hannover abgetrennten Gebietsteile als „ständige Irredenta“ einen ewigen Unruheherd in der Bremer Politik bilden würden.
Moderater Gebietszuwachs
Seine Denkschrift sah deshalb nur einen moderaten Gebietszuwachs vor: Außer Delmenhorst sollte noch Hasbergen dazu kommen, zudem Lemwerder sowie im Süden Stuhr, Brinkum, Kirchweyhe und das weitere Gebiet bis einschließlich Syke. Im Norden standen Schwanewede und Osterholz-Scharmbeck auf der Wunschliste. Für Spitta waren das „nur Grenzberichtigungen, die für das große Land Niedersachsen belanglos, für Bremen und die in Frage kommenden Ortschaften aber vorteilhaft“ seien.
Ganz so belanglos wie von Spitta vermutet waren die erwünschten Grenzkorrekturen für das große Niedersachsen aber doch nicht. Wohl im Einvernehmen mit dem designierten niedersächsischen Ministerpräsidenten Hinrich Kopf (SPD) teilte der britische Militärgouverneur am 23. Oktober 1946 mit, das neue Land Niedersachsen solle den gesamten Militärregierungsbezirk Hannover mit Ausnahme Bremens umfassen – eine klare Absage an mögliche Grenzänderungen zugunsten der Hansestadt.
Merkwürdig nur, dass Spitta sich davon in keiner Weise beeindrucken ließ. Unverdrossen setzte er die Arbeit an seiner zuletzt 13-seitigen Denkschrift fort. Sogar die Gründung des Landes Niedersachsen am 1. November bremste seinen Arbeitseifer nicht. Tags drauf notierte er in seinem Tagebuch: „Den größten Teil der Denkschrift über Gebietserweiterung Bremens fertiggestellt.“ Doch wozu noch die Mühsal, fragt man sich; war denn eine Gebietserweiterung nach dem britischen Votum nicht schon längst vom Tisch?
Sicher ist, am 13. November beschloss der Senat, die Denkschrift als offizielle Stellungnahme Bremens an die amerikanische Militärregierung weiterzuleiten. Im Falle einer Wiederherstellung Bremens sollte das Papier als Entscheidungshilfe in der Grenzfrage dienen. Bei den Amerikanern kam die Denkschrift jedoch nicht an: „Telephon-Gespräch mit Kaisen aus Stuttgart, der die Einreichung meiner Denkschrift stoppt“, notierte Tagebuchschreiber Spitta am 16. November. Als Grund vermutete er Unstimmigkeiten zwischen Kaisen und Kopf wegen des Streitfalls Wesermünde.
Spitta sprach vom „Kampf um Wesermünde“
Wesermünde, das war Bremerhaven einschließlich Lehe und Geestemünde. Der Besitz des Überseehafens mit seinem städtischen Umfeld war für die alte Hansestadt eine wirtschaftliche Lebensfrage, ebenso wie die uneingeschränkte Kontrolle der Weser zwischen Bremen und Bremerhaven. Daran hatte Spitta in seiner Denkschrift keinen Zweifel gelassen.
Ärgerlich nur, dass Niedersachsen sich weigerte, Wesermünde preiszugeben. Bei der Länderratssitzung in Stuttgart waren Kaisen und Kopf deswegen heftig aneinandergeraten. Möglich, dass Kaisen die Abgabe der Denkschrift untersagte, weil er nicht unnötig Öl ins Feuer gießen wollte. Vielleicht hoffte er auf eine einvernehmliche Regelung. Die wurde unterdessen immer unwahrscheinlicher. Wie Spittas Tagebuch zu entnehmen ist, wogte der „Kampf um Wesermünde“ schon seit den ersten Novembertagen. Dagegen war die Einverleibung von Delmenhorst eine Lappalie.
Auf Drängen Spittas überreichte Kaisen die Denkschrift am 21. November dann doch. Der Anlass für den Sinneswandel: Nach neuerlichen Anfeindungen aus Hannover sah Spitta „wegen des Stromes Gefahr im Verzuge“ – mit dem „Strom“ war natürlich die Weser gemeint; daher, so der eifrige Tagebuchschreiber, „bestimme ich Kaisen, dass er heute die Denkschrift dem Governor übergibt.“
Offenbar ging es dem Senat also allein darum, gegenüber den Amerikanern die bremischen Ansprüche auf die Weser und Wesermünde zu unterstreichen, in der Denkschrift zwei gewichtige Punkte. Immerhin gab es von Seiten der Besatzungsmächte noch immer keinen Termin für eine Wiederherstellung Bremens, nur vage Absichtserklärungen – da konnte es nicht schaden, eindeutig Position zu beziehen.
Von einer Einverleibung anderer Gebiete war da schon längst keine Rede mehr.
von Frank Hethey