Zum 100. Geburtstag von Annemarie Mevissen
Leicht hat sie es nicht gehabt, als sie 1952 auf Betreiben von Bürgermeister Wilhelm Kaisen ihr neues Amt als Jugendsenatorin antrat. Schon kurz darauf kassierte sie den ersten Tadel des Stadtoberhaupts. Doch sie lernte schnell dazu und konnte sich in der Männerwelt behaupten. In Erinnerung ist vor allem ihr couragierter Auftritt bei den Straßenbahnunruhen im Januar 1968 geblieben. Ohne zu zaudern begab sie sich mitten in „die kochende Suppe“.
Es brodelte schon seit einiger Zeit in der Stadt. Hatten bislang die studentischen Unruhen einen Bogen um Bremen gemacht, so gelangte spätestens mit dem Auftritt Rudi Dutschkes Ende November 1967 in der „Lila Eule“ Protestpotential an die Weser. Wegen des Fehlens einer Universität wurde dieses aber nicht von Studenten, sondern überwiegend von der Schülerschaft getragen.
Der Funke, der das Fass schließlich zur Explosion bringen sollte, war der Beschluss, die Tarife für Bus und Straßenbahn um 15 Prozent zu erhöhen. Spontan versammelte sich am 15. Januar 1968 eine Gruppe Jugendlicher zu einer Blockade des Straßenbahnknotenpunktes am Domshof. Motiviert vom Erfolg der Aktion strömten in den nachfolgenden Tagen immer mehr Jugendliche an den Ort. Am fünften Tag hatte sich der Zorn der Demonstranten bereits so hochgeschaukelt, dass mit dem Schlimmsten zu rechnen war.
In dem Band „Draufhauen, Draufhauen, Nachsetzen!“ von Detlef Michelers werden die nun folgenden Momente anschaulich beschrieben: „Gegen 17.30 Uhr fuhr langsam ein grauer PKW durch die Menge. Auf dem Seitensitz Frau Mevissen, die von mittlerweile 2000 Menschen begeistert begrüßt wurde. Sie waren bass erstaunt, wie es Jan Lahusen beschreibt, dass die Bürgermeisterin da mitten in die kochende Suppe hineinfährt.“
Gemeinsam mit Senatsdirektor Stahl entstieg Bürgermeisterin Mevissen dem Wagen und forderte mit den Worten „Komm mit“, einen Demonstranten auf, ihr zu folgen, was dieser auch umstandslos tat. Um von der versammelten Menge besser wahrgenommen zu werden, stellte sie sich mit einem Megaphon in der Hand auf eine Streusalzkiste. Bereits mit ihrem ersten Satz: „Dies ist eine legale Demonstration“, gelang es ihr, die Stimmung zu ihren Gunsten zu wenden. Mevissen wertete das rebellische Aufbegehrend der Jugendlichen nicht ab oder rückte es in eine kriminelle Ecke (mehr dazu hier). Vielmehr sah sie in diesem einen Auftrag, über Dinge nachzudenken, die vielleicht übersehen worden sind oder verkehrt gemacht wurden.
Wegen ihres Mutes, sich als einzige Vertreterin des Senats den aufgebrachten Demonstranten zu stellen, hieß es im Anschluss von Seiten vieler, sie sei der „einzige Mann im Senat“. Ein Satz, dessen Spitze in erster Linie auf den abwesenden Bürgermeister Koschnick zielte. Dabei war sich Mevissen über das Ausmaß ihres Handelns wahrscheinlich gar nicht bewusst, sondern eher selbst überrascht von der eigenen Courage. „Mir war ziemlich bange, aber ich hatte sie ja am Vormittag bei mir gehabt, die da rund um mich herumstanden […] Als sie zu mir kamen habe ich gedacht, das könnte mein Sohn sein, der mich da fordert“, äußerte sie sich später über ihr Handeln. Und doch war diese unkonventionelle Art typisch für Mevissen und gibt einen Hinweis auf ihren bis in die Gegenwart reichenden besonderen Platz im politischen Gedächtnis der Stadt.
Annemarie war „ernst und äußerst pflichtbewusst“
Was macht uns zu dem Menschen, der wir sind? Neben gesellschaftlichen Bedingungen spielt der Einfluss der Familie eine ganz besondere Rolle. Vieles von dem, was wir dort erfahren, prägt und begleitet uns unser ganzes Leben.
Annemarie Mevissen wuchs in einer Familie auf, für die soziale Fragen einen zentralen Platz besaßen. Insbesondere ihr Vater, Wilhelm Schmidt, dürfte sie nachhaltig geprägt haben. Aufgewachsen in Bristow, einem kleinen Dorf in Mecklenburg, wusste der spätere Mitautor der Bremer Landesverfassung aus eigener Erfahrung, was es heißt, wenn soziale Nachteile das Leben bestimmen. Nach der Heirat der Eltern am 11. August 1911 vergrößerte sich die junge Familie bald. Im Oktober 1912 wurde Hans geboren und am 24. Oktober 1914 kam schließlich Annemarie zur Welt. Von ihrem Charakter her hätten die Geschwister nicht unterschiedlicher sein können. War Hans fröhlich und unbekümmert, so war Annemarie „ernst und äußerst pflichtbewusst, die schwer um ihr Wissen ringen musste. Sie hatte nur Zeit für ihre Liebhaberei, wenn die Aufgaben restlos erfüllt waren“, so Wilhelm Schmidt über seine Tochter.
Mit 14 Jahren ging sie zur sozialistischen Arbeiterjugend, wo sie schon bald eine Jugendgruppe leiten sollte. Nach Abschluss der Volksschulzeit besuchte Mevissen die Deutsche Oberschule für Mädchen in der Karlstraße. Und obwohl sie 1934 ihr Abitur mit Auszeichnung machte, blieb ihr der Wunsch, Lehrerin zu werden versperrt. Trotz Fürsprache durch ihre Direktorin, Frau Johanne Lürßen und des Landesschulrates, erhielt sie keine Zulassung zum Studium. Die Gauleitung, die für die Vergabe der Studienplätze zuständig war, begründete die Absage mit der angeblichen nationalen Unzuverlässigkeit des Vaters.
War sie anfangs enttäuscht über diese politisch motivierte Entscheidung, so wandelte sich ihre Meinung im Laufe der kommenden Jahre und sie begriff diese durchaus als Wink des Schicksals. Denn um nicht untätig zu bleiben, begann sie am 1. April 1934 eine Ausbildung zur Buchhändlerin bei der Firma „Johannes Storm“. Und als diese 1936 zu Ende war, führte sie ihr Weg an die Universitätsbuchhandlungen von Leipzig, Marburg und Göttingen. Orte, an denen sie wichtige Erfahrungen sammeln konnte und vor allem ihren späteren Ehemann, Werner Mevissen, begegnete. Als der Krieg immer deutlicher auf Deutschland zurückschlug, gingen die beiden im Jahre 1943 den Bund fürs Leben ein.
In der Männerwelt funktionieren
Nach Ende des Krieges ging es Mevissen zunächst darum, dass Schicksal der Kinder in ihrem unmittelbaren Wohnumfeld in Oberneuland zu verbessern. Um ihre Gedanken über die Schrecken der vergangenen Jahre mit anderen austauschen zu können, wurde sie Mitglied im Ristedter Kreis, einer kleinen Gruppe von Sozialdemokraten. Vorstellungen über eine neue Ordnung, in der die soziale Gerechtigkeit, die Menschlichkeit und der Friede gepflegt werden, diskutierte man dort. Doch schon bald wurden die Gespräche konkreter und erste Gedanken über eine neu zu fassende Bremische Verfassung kamen auf.
Es war daher auch nur konsequent, dass man Mevissen in dieser Runde Mut zusprach, den Sprung in die Politik zu wagen. Nach einem ersten Scheitern gelang es ihr im Oktober 1947 schließlich über die Landesliste der Bremer SPD in die Bremische Bürgerschaft einzuziehen. Völlig überraschend erreichte Mevissen während einer USA-Reise die Nachricht, dass man auf Initiative Wilhelm Kaisens beabsichtige, sie in das „Amt für das Jugendwesen“ zu wählen. Mit gerade einmal 37 Jahren und nur geringen Verwaltungserfahrungen trat sie am 16. Januar 1952 ihr neues Amt an. Lediglich eine Schreibkraft und drei Hausmeister in verschiedenen Jugendheimen standen ihr in den Anfangsjahren zur Verfügung. Und auf Verständnis konnte sie ebenfalls nicht hoffen. Sie musste in der Männerwelt funktionieren.
Nach ihrer Heirat hatte sich ihre Familie durch die Geburt der beiden Kinder Ulrike (am 10. Januar 1945) und Edmund (am 31. Dezember 1948) bald vergrößert. Zudem war es ihrem Mann geglückt, im Herbst 1945 die Leitung der Bremischen Volksbücherei zu übernehmen. Ein Amt, welches er bis 1975 beibehalten sollte. Ohne die Hilfe der Eltern, die sich häufig um die beiden Enkelkinder kümmerten, hätte Mevissen die Aufgabe darum wohl nur schwer bewältigen können. Denn auf Rücksicht konnte sie im harten Politikeralltag nicht erwarten. In einem Briefwechsel mit Dr. Lührs, dem Leiter des Bremer Staatsarchivs, gab sie Jahre später Einblick in den harschen Umgangston der frühen 1950er Jahre. Als sie zu Beginn ihrer Senatorenarbeit Bürgermeister Kaisen darum bat, das Jugendamt ihrem Verantwortungsbereich zu unterstellen, ließ sie dieser schriftlich wissen: „Ein Senator ist der erste Diener des Staates, er hat sowohl Pionierarbeit als auch Verwaltungsarbeit zu leisten. […] Ich war in der Tat der Auffassung, dass Sie das Zeug dazu hätten, diese dringenden Jugendprobleme im Lichte der bremischen Notwendigkeiten zu bearbeiten.“
Und ihr Aufgabenbereich war in der Tat äußerst umfangreich. 29 Kindertagesstätten, 4 Kinderwohnheime, 6 Jugendwohnheime und 15 öffentliche Jugendwohnheime unterstanden ihr. Ein besonderes Augenmerk genoss dabei der internationale Jugendaustausch mit England, Schweden und der Niederlande. „Nur wenn sie (die Jugendlichen) im Ausland die Gewohnheiten der dort lebenden Menschen kennen lernen, Einsicht nehmen in die wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse, können sie über ihr eigenes Zuhause urteilen.“
Mevissen war eine streitbare Politikern, die ihren eigenen Weg verfolgte. Auch aus heutiger Sicht muten ihre Entscheidungen nicht immer bequem an. So sprach sie sich am 22. Dezember 1959 dagegen aus, Günter Grass für sein Werk „Die Blechtrommel“ den Bremer Literaturpreis des Jahres 1960 zu verleihen, da „nach ihrer Meinung zumindest einige Kapitel des Werkes auf den Index jugendgefährdender Schriften aufgenommen werden müssten“. Aber vielleicht war es gerade diese Haltung, die am 28. November 1967 dazu führte, dass man sie zur Bürgermeisterin und damit zur stellvertretenden Präsidentin des Senats wählte.
Ehrenbürgerschaft verliehen
Am 15. Februar 1975 schied Mevissen auf eigenen Wunsch aus der Politik aus. Nach einer 23 jährigen Senatsmitgliedschaft war sie müde geworden. Zudem hatte sich mit Einzug der 68er Generation im politischen Alltagsgeschehen vieles verändert. Mevissen spürte, dass ihr die Arbeit fremd geworden war.
Lieber wollte sie sich nun Zeit für Dinge nehmen, die in der Vergangenheit zu kurz gekommen waren und ihren künstlerischen Ambitionen widmen, zu denen in erster Linie die Malerei und Musik zählten. Im Laufe der Jahre veröffentlichte sie mehrere Bände über das nahe und ferne Bremer Umland. Leider war ihr keine lange gemeinsame Ruhezeit mit ihrem Ehemann vergönnt. Werner Mevissen verstarb bereits am 4. Januar 1978.
In Anerkennung ihrer bleibenden Leistungen und Verdienste sowie ihres vorbildlichen und selbstlosen Engagements, verlieh ihr der Bremer Senat am 6. September 2005 die Ehrenbürgerschaft. Gemeinsam mit Barbara Grobien zählt Mevissen damit zu den ersten Ehrenbürgerinnen der Freien Hansestadt Bremen.
Ein langes Politikerinnenleben ging zu Ende, als sie am 13. Juli 2006 unter großer öffentlicher Anteilnahme im Alter von 91 Jahren verstarb.
von Sönke Ehmen