Von Anbiet bis Zuckerklatsche
„Erst der Hafen, dann ist die Stadt“
Im Magazin „Erst der Hafen, dann ist die Stadt“ über Bremen und seine Häfen gehen wir in vielen historischen Bildern auf Zeitreise durch die maritime Vergangenheit unserer Hansestadt. Wie entwickelten sich die Häfen in Bremen vom Mittelalter bis heute? Wie sah die Arbeit zwischen Ladeluke, Kaje und Schuppen aus? Was hatte es mit den Anbiethallen auf sich? Und wie veränderte die Containerschifffahrt die Häfen? Wir blicken auf die Gründung der Freihäfen um 1900 und den Strukturwandel rund 100 Jahre später. Wir erzählen von Schmugglern und Zöllnern, von Bremens großen Werften sowie Abenteuern, Sex und Alkohol an der Küste – dem Rotlichtviertel am Hafen.
Vor 60 Jahren kam es zu einem spektakulären Zugunglück in Walle – der Lokführer kam dabei ums Leben
Während der letzten Sekunden seines Lebens versuchte Heinrich Möhlmann verzweifelt, seine Dampflok zum Stehen zu bringen. Alle Bremsen und Hebel setzte der 44-jährige Zugführer in Bewegung, um das Unglück noch abzuwenden. Doch vergebens, unaufhaltsam bewegte sich das 90 Tonnen schwere Ungetüm mit kreischenden Bremsen auf den Abgrund zu. Gerade einmal 35 Meter Bremsweg waren deutlich zu kurz, um den Güterzug mit seinen 45 Waggons rechtzeitig anzuhalten.
Ein Augenzeuge vernahm in diesem Moment zusätzlich ein „gewaltiges Zischen“. Wohl die Strahlpumpe, mit der der Heizer zur Minderung der Explosionsgefahr noch Wasser in den Kessel leitete. Als der Zug das gähnende Loch am Osterfeuerberg-Tunnel erreichte, kippte die Lokomotive viereinhalb Meter in die Tiefe. Mit ohrenbetäubendem Lärm schlug die Maschine auf der Straße auf, in der unmittelbaren Nachbarschaft erbebte die Erde, die Fensterscheiben klirrten.
Sechs Gleise, aber nur fünf befahrbar: Skizze der Unglücksstelle am Tunnel Osterfeuerbergstraße.
Quelle: Archiv des Weser-Kuriers
Einen schweren Schock erlitt der Heizer, der damals 27-jährige Siegfried Koslowski. Mit einem waghalsigen Sprung vom Unglückszug hatte er sich in allerletzter Sekunde retten können, nun irrte er orientierungslos auf der Straße umher. „Der Lokführer ist noch drin!“, rief Koslowski den herbeieilenden Rettungskräften zu. Ein Feuerwehrmann stellte sogar noch eine Leiter an die heiße Maschine, trat aber schnell wieder den Rückzug an. Zu sehen war ohnehin so gut wie nichts, dichter Wasserdampf hüllte die Unfallstelle ein. Eine Überlebenschance hatte Möhlmann nicht. Das Führerhaus war durch die Masse des 35 Tonnen schweren Tenders völlig zerquetscht worden. Der dreifache Familienvater war auf der Stelle tot.
Und doch hätte alles noch viel schlimmer kommen können an diesem 6. August 1960 um 21.38 Uhr. Dass nur ein Todesopfer zu beklagen war, grenzte an ein Wunder. Denn gewöhnlich war der Tunnel sehr belebt, auch zu dieser späten Stunde tummelten sich bei lauschigen Abendtemperaturen noch etliche Menschen auf der Straße. Doch zum Zeitpunkt des Unglücks befand sich niemand im Tunnel, kein Passant und kein Fahrzeug. Drei Fußgänger, die von der Gustavstraße aus die Unterführung betreten wollten, konnten per Zuruf noch eben davon abgehalten werden.
Schaulustige in Massen
Nichts zu machen war unterdessen gegen den „Ansturm der Neugierigen“, wie es der WESER-KURIER formulierte. Hunderte wurden durch das lautstarke Aufschlaggeräusch angelockt, sie zu bändigen bereitete der Polizei einige Mühe. „Unvernünftige drängelten bis unmittelbar an die zischende Unglückslok“, hieß es tadelnd in der Berichterstattung. Im wahrsten Wortsinne ein Spiel mit dem Feuer, weil unmittelbar nach dem Unfall eine Kesselexplosion drohte.
Ließ sein Leben: der Lokomotivführer Heinrich Möhlmann.
Quelle: Archiv des Weser-Kuriers
Tags drauf, als die Gefahr gebannt war und die Maschine durch zwei gewaltige Krane geborgen wurde, vergrößerte sich das Heer der Schaulustigen gar auf mehrere Tausend Menschen. Unter ihnen auch der Fotograf Georg Schmidt, dem wir diese eindrucksvolle Aufnahme zu verdanken haben. Im Hintergrund zu sehen: der Giebel der Schule an der Schleswiger Straße, heute Heimat des Kulturhauses Walle.
Doch wie kam es überhaupt zu der Katastrophe? Das Desaster hatte mit Reparaturarbeiten an der 80 Jahre alten Unterführung zu tun. Eine Woche vor dem Unglück war ein altersschwaches Brückenteil samt Gleis ausgehängt worden. An sich natürlich keine schicksalhafte Fügung. Die Züge wurden einfach vom unterbrochenen Schienenstrang auf das Nachbargleis umgeleitet, ein Routinevorgang. Zumal der Zugverkehr schon damals automatisch geregelt wurde, die Bahnbeamten im Stellwerk Osterfeuerbergstraße mussten nicht selber schalten und walten.
An diesem Abend aber doch. Der Grund: Ein Kabelschaden hatte die automatische Anlage lahmgelegt. Doch auch damit war das Zugunglück noch längst nicht besiegelt. Zwar wurden die beiden diensthabenden Beamten vom herannahenden Zug überrascht. Aber es leuchtete ja das Haltesignal, weil kurz zuvor ein Güterzug in der Gegenrichtung unterwegs gewesen war.
Alles in Ordnung, könnte man meinen. Das Verhängnisvolle indessen: Das Haltesignal wurde durch ein Zusatzsignal aufgehoben, das Möhlmann freie Fahrt anzeigte – freilich eine Fahrt in den Abgrund, da wegen des Gegenverkehrs die Weiche noch nicht umgestellt war.
Unglück nicht restlos aufgeklärt
Wie und warum das fatale Zusatzsignal ausgelöst wurde, ließ sich mit letzter Sicherheit niemals klären. Der verantwortliche Fahrdienstleiter bestritt in der Gerichtsverhandlung, den Signalschalter betätigt oder berührt zu haben. War keine versehentliche Aktivierung im Spiel, könnte der Schalter auch in einer vorherigen Schicht gedrückt worden sein. Als Entlastung ließ das Gericht diesen Umstand aber nicht gelten mit der Begründung, der Fahrdienstleiter hätte die Kontrolllampe bemerken müssen und damit seiner Sorgfaltspflicht nicht genügt.
Das Urteil: Wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Transportgefährdung wurde der 26-jährige Beamte im Juni 1961 zu einer zweimonatigen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt.
Endstation Walle: Zahlreiche Schaulustige beobachten am Morgen des 7. August 1960 die Bergung der Unglückslok am Osterfeuerberg-Tunnel.
Foto: Georg Schmidt