Vor 70 Jahren: 1946 wurde die frühere Stadt Vegesack zu einem Bremer Stadtteil / Bis 1939 war Vegesack eine Exklave in Preußen
Nach „Vegebüdel“ beorderte in den 1950er Jahren der Familienvater die Verwandtschaft, als es um ein lohnendes Ausflugsziel ging. Eine liebevolle, aber auch ein wenig herablassende Bezeichnung für Vegesack, seit 1946 ein Stadtteil von Bremen. Der 70. Jahrestag bietet einen passenden Anlass, Vegesack etwas näher unter die Lupe zu nehmen. Und daran zu erinnern, dass der heutige Stadtteil früher mal eine eigenständige bremische Stadt war. Eine Exklave umgeben von hannoverschen, ab 1866 preußischen Gemeinden.
„Wir fahren heute nach Vegebüdel“, sagte mein Vater eines schönen Sonntagmorgens. Und ergänzte, als wir Kinder ihn fragend ansahen: „Nun ja. So sagt man zu Vegesack, der Stadt im Bremer Norden.“ Auf diese Reise waren wir gegen Ende der 1950er alle sehr gespannt.
Ob während meiner Schulzeit Vegesack im Fach Heimatkunde behandelt wurde? Das kann ich heute nicht mehr mit Gewissheit sagen. Erinnern kann ich mich aber daran, dass im Unterricht die Auseinandersetzungen auf der linken Weserseite behandelt wurden. Bremen wollte das Land dort beherrschen, um die Weser als Schifffahrtstraße zu sichern. Doch die Stedinger, die Oldenburger, die Friesen und andere waren dagegen. Es gab über Jahrhunderte viele Kriege, der Kaiser wurde mehrmals zur Vermittlung angerufen. Letztlich Bremen musste seine Pläne aufgeben.
Auf der rechten Weserseite konnte Bremen seine Interessen über die Jahrhunderte besser wahrnehmen. Alles zielte dahin, Bremen den freien Zugang zur Nordsee zu sichern und auf der Passage keine Gebühren und Zoll an andere zahlen zu müssen.
Auf einen ganz miesen Trick kam der neu eingesetzte Bremer Erzbischof Gerhard II. (1190 bis 1258) im Jahre 1220. In Farge, auf der rechten Weserseite, hatte er die Witteborg errichtet. Um sein Bistum zu unterhalten brauchte er viel Geld. Da ließ er von seiner Burg aus quer durch die Weser Pfähle schlagen. Die Durchfahrt in der Mitte versperrte er mit einer Kette. Dann warteten seine Knechte wie die Spinne im Netz auf ihre Opfer. Das war den Bremern doch etwas zu dicke. Sie fuhren mit ihrem größten Schiff auf die Sperre zu, sprengten die Kette und zerstörten die meisten Pfähle. Danach gab der Erzbischof sein Vorhaben auf.
Vegesack chronologisch
Die Stadtteile Burglesum, Vegesack und Blumenthal gehören heute als Bremen-Nord zu Bremen. Doch das war keineswegs immer so: Vegesack genoss als städtische Exklave einen Sonderstatus, die umliegenden Gemeinden gehörten im 19. Jahrhundert erst zu Hannover, dann zu Preußen. Wegen dieser eigenen Geschichte und da das Bremer Zentrum weit entfernt ist, hat sich bei einem Teil der Ortsansässigen das Gefühl für eine gewisse Unabhängigkeit bewahrt. Einige Organisationen wie auch Parteien gliedern sich in Bremen und Bremen-Nord. Bei Fahrten in das Bremer Stadtzentrum heißt es immer noch „Wir fahren nach Bremen“. Und wir Bremer sagen: „Wir fahren nach Vegesack“.
Jetzt kommt mir das Buch „Die Unterweser“ von 1963 gut zupass. Wir bekamen es nach zehn Schuljahren zur Mittleren Reife (heute: Realschulabschuss) vom Staat geschenkt. Die Chronologie zur Geschichte Vegesacks gibt einen guten Leitfaden ab, um sich über den Stadtteil seine Gedanken zu machen:
1073
Der Chronist Adam von Bremen notiert in seiner Kirchengeschichte, dass Seeschiffe weseraufwärts nach Bremen kommen.
1410
Von der Wesermündung an sichert Bremen die Weser mit Tonnen und Baken.
1436
erwirbt Bremen auf dem rechten Weserufer einen etwa vier Kilometer breiten Streifen Land von der Lesum-Mündung bis etwa in Höhe Elsfleth.
1453
Vegesack wird erstmalig erwähnt.
um 1500
Vegesack erhält seinen Namen von dem alten Krughaus „Thom Vegesacke“.
1541
„Durch tiefe Griffe in den Staatssäckel“ erhält Bremen von Kaiser Karl V., der Geld für die Türkenkriege braucht, umfassende Rechte zugesprochen. Die Krönung ist jedoch, dass die Weser auch aus Sicht des Reiches ein bremischer Strom ist.
1619 bis 1622
Bau des Vegesacker Hafens auf einer angekauften Wiese neben dem Aumunder Tief. Da Bremen – mal wieder – recht klamm ist, gibt das „Haus Seefahrt“ (1545 gegründet) erhebliche Zuschüsse. Doch schon vor 1700 ist der Hafen versandet und damit für größere Seeschiffe nicht mehr erreichbar.
1621
Der Wasserstand in der Weser ist so niedrig, dass man den Fluss vom Stephani-Werder und der Gröpelinger Weide bis zum Teehof „durchwaten“ kann.
1645
Bremen lässt das erste Havenhaus in Vegesack bauen.
1653 bis 1804
In den Wirren der Zeit wurde Vegesack 1653 schwedisch, 1712 dänisch, 1715 bremisch, 1741 kurhannoversch (und muss Gebiete abgeben, nur das Havenhaus und der Hafen bleiben bremisch) und wird erst 1804 endgültig bremisch. Um den Vegesacker Hafen herum entwickelt sich eine Ortschaft und es entsteht ein bedeutender Schiffbauplatz.
1692 bis 1858
Durch die Grönlandfahrer wird Vegesack zum Hafen der Walfänger. Ab 1858 wird Tran der Wale als Beleuchtungsmittel zunehmend durch Petroleum ersetzt. Die meisten Walfangunternehmen gehen ein.
1770
In Vegesack, auf dem heutigen „Strandlust“-Gelände, legt der Schiffszimmermann Johann Janßen eine Werft an.
1852
Der Flecken Vegesack wir zur Stadt erhoben.
1875
Die bremische Exklave Vegesack tritt dem Zollverein bei; Bremen erst 1888.
1885
Die „Bremen-Vegesacker-Fischerei-Gesellschaft“ wird gegründet. 1969 wird der Betrieb in Vegesack eingestellt und nach Bremerhaven verlegt.
1887
Beginn der „Korrektion der Unterweser“. An der Weser bei Vegesack entsteht ein breiter Sandstrand. Den können die Eigentümer der angrenzenden Grundstücke zum Vorzugspreis erwerben.
1893
Die „Bremer Vulkan, Schiffbau und Maschinenfabrik“ werden gegründet. Der Betrieb wird 1997 eingestellt.
1889
Die schon sehr alte Fähre Vegesack-Lemwerder wird durch eine Dampffähre ersetzt.
1939
werden die bisher selbstständigen preußischen Gemeinden Lesum, Grohn, Schönebeck, Aumund, Blumenthal, Farge, Hemelingen und Mahndorf an Bremen angegliedert. Zugleich wird die bisherige Stadt Vegesack in das Stadtgebiet aufgenommen.
1946
werden die vormals preußischen Gemeinden zusammen mit der ehemaligen Stadt Vegesack (1939: 5096 Einwohner) zum Bremer Stadtteil Vegesack (1950: 31.664 Einwohner) mit den Ortsteilen Vegesack, Grohn, Schönebeck Aumund-Hammerbeck, Fähr-Lobbendorf vereinigt.
Damit soll es mit der Vegesacker Geschichte genug sein, und ich will nun endlich vom weiteren Verlauf des Familienausflugs nach Vegesack erzählen.
Gegen Ende der 1950er kamen einige Geschwister meiner Eltern zu Besuch nach Bremen. Aber sie wollten nicht den ganzen Tag auf dem Sofa sitzen, sondern diese „Landeier“ wollten auch etwas erleben. Zuerst bot sich eine Hafenrundfahrt an. Das emsige Treiben in den Häfen beeindruckte die Verwandtschaft sehr. Dann bot sich ein Besuch im Überseemuseum an. Besonders die naturgetreu aufgebauten Szenen, bei denen Eingeborene vor ihren Hütten saßen, hinterließen bei allen einen nachhaltigen Eindruck.
Bei den nächsten Besuchen meiner Tanten und Onkel mussten neue Ausflugsziele her. Mein Vater sagte: „Wir fahren nach Vegebüdel.“ Den Namen hatten wir wie gesagt noch nie gehört. Aber mein Vater wusste, wie man dort hinkommt. Nach einem vorgezogenen Mittagessen und einem abgekürzten Mittagsschlaf nahmen wir die Straßenbahn zum Hauptbahnhof und von dort den Zug nach Vegesack. Dort werden wir wohl um halb drei nachmittags eingetroffen sein. Zu Fuß ging es anschließend auf direktem Weg weiter in Richtung Strandlust.
Kein Halten mehr, als die Kinder die Strandlust erreichten
Als wir dort den Strand sahen, gab es für uns Kinder kein Halten mehr. „Pass auf die Kleine auf!“, rief meine Mutter hinter uns her. Und schon hatten wir, meine Schwester und ich, den Sandstrand erreicht, flugs unsere Schuhe und Strümpfe ausgezogen und wateten in der Uferbrandung. Zu der Zeit trugen wir Jungen sommertags meist nur kurze Hosen und die Mädchen Röcke.
Wir sahen kleine und größer Schiffe vorbeifahren. Bei den großen Seeschiffen wurde die Brandung doch wesentlich stärker. Wir sahen die Fähre Vegesack-Lemwerder in regelmäßigen Abständen hin- und herpendeln.
Nach einiger Zeit drängte uns die Elterngeneration vom Strand und lockte uns in den Biergarten der Strandlust. Für uns Kinder gab es Sinalco in der Flasche mit einem Strohhalm. Die Erwachsenen machten es üppiger und bestellten Apfelkuchen mit Sahne. „Auf Terrasse sonntags nur Kännchen“, klärte der Kellner auf. Da zogen die Männer doch ein paar kühle Bierchen vor. Und sie ließen sich auch noch die Zigarrenkiste bringen.
Schon drängte die Zeit zur Rückfahrt. Aber die wollten wir mit dem Schiff machen. Um etwa halb sechs kam ein grün-weißes Schiff der Schreiber-Reederei aus Richtung Bremerhaven. Die Fahrt dauerte eineinhalb Stunden und brachte uns sicher zum Martinianleger.
Wir waren kaum ausgestiegen, als die Glocken des Doms uns die Zeit sagten: 19 Uhr. Nach gut einer Viertelstunde waren wir dann wieder zuhause angelangt.
von Peter Strotmann